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Renaissance der Atomkraft?

24. Oktober 2009

Alle Jahre wieder kommt es neu auf den Tisch, das Schlagwort vom "Comeback" der Atomenergie. In jüngster Zeit vor allem im Zusammenhang mit der drohenden Erderwärmung: Kernkraftwerke stoßen kein klimaschädliches CO2 aus.

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Baustelle des Atomkraftwerks in Olkiluoto/Finnland (Foto: dpa)
Beim Bau des Atomkraftwerks in Olkiluoto/Finnland kam es zu immensen Verzögerungen und explodierenden KostenBild: dpa

Die IAEA, die Internationale Atomenergiebehörde, ist nicht nur für die weltweite Überwachung von nuklearwaffenfähigem Material zuständig, sie ist auch Ansprechpartner und Berater für Staaten, die Kernenergie friedlich nutzen wollen. Für Staaten also, die über den Bau von Atomkraftwerken zur Stromerzeugung nachdenken. 50 bis 60 Länder, alle bislang ohne eigenes Kernenergieprogramm, hätten da in letzter Zeit angeklopft, um sich schlau zu machen, sagt Hans-Holger Rogner, Leiter der Abteilung "Planung und wirtschaftliche Studien" bei der IAEA.

Ergebnisoffenes Planspiel

Ob Kernkraft zum Beispiel für ein Entwicklungsland eine Option sein könnte, das versuchen die Experten der Atomenergiebehörde dann in einem komplexen mathematischen Modell vorherzusagen. Das Szenario ist erst einmal völlig ergebnisoffen, auch die Alternativen Kohle, Öl, Gas, Wind, Sonne, Wasser werden durchgerechnet: Wie sehen die gegenwärtigen Ressourcen aus, die Leitungen, die Kapazitäten, die Import- und Exportverbindungen; und wie die zukünftigen? "Wir berücksichtigen auch die sogenannte Lastkurve, wie die Nachfrage sich über den Tag und über die Saison verändert" , erklärt Rogner.

Atomkraft passt nicht für jedes Land

Atomkraftwerk im chinesischen Shenzen (Foto: AP)
In China ist der Bauboom ungebrochen: Atomkraftwerk in ShenzenBild: AP

"Und da kommt ziemlich schnell raus, dass Kernenergie in vielen Fällen, außer für ein paar große Entwicklungsländer, in den nächsten 10 bis 20 Jahren eigentlich gar keinen Platz hat: Die Netze sind unzureichend, die Grundlastbereiche sind zu gering." Die Länder müssten immer erst einmal ihr eigenes Energiesystem verstehen lernen, erläutert Rogner. Und dann sehen, wie verschiedene Technologien hineinpassten, "ob das jetzt Kohle ist oder kleine Gasturbinen oder ein großes Kernkraftwerk."

Neues Interesse ja, Renaissance nein

Ein neues Interesse an Kerntechnologie und an den Fragen der Machbarkeit sei grundsätzlich durchaus feststellbar, eine Renaissance sei das aber noch nicht:

"Die Renaissance beginnt bei mir, wenn dieses Interesse sich in wirkliche Bestellungen von Kraftwerken ausdrückt, wenn wir wirklich sogenannte "firm orders" haben in der Pipeline." Im Vergleich zu den letzten 20 Jahren habe sich hier etwas getan, momentan seien 53 Kernkraftwerke weltweit im Bau. "Nur, wenn man sich das Ganze jetzt regional anschaut, ist das Ganze natürlich eigentlich von zwei Ländern dominiert: Indien und China." Und von Südkorea, so könnte man noch ergänzen.

Statistik zu Atomreaktoren weltweit in Bau (Quelle: IAEA)
Atomreaktoren weltweit in BauBild: IAEA.org

Bauboom nur in wenigen Ländern

In der übrigen Welt gibt es viele Absichtserklärungen, aber eben kaum konkrete Neubau-Pläne. Selbst von den 53 Reaktoren, die in der IAEA-Statistik als "im Bau befindlich" geführt werden, sind dreizehn schon seit über zwanzig Jahren über diesen Zustand nicht hinausgekommen; böse Zungen wie der ehemalige Bundesumweltminister Jürgen Trittin sprechen von da schon einmal von "Bauruinen".

Gesamtzahl der Reaktoren in Betrieb stagniert

Auch wenn manch ein lang verzögertes Projekt schließlich doch noch fertig wird, im Gegenzug gehen laufend Meiler vom Netz. Wegen akuter Sicherheitsprobleme, aufgrund von politischen Entscheidungen, oder schlichtweg aus Altersgründen. 435 Reaktoren sind momentan weltweit in Betrieb, das sind neun weniger als 2002. Das durchschnittliche Alter dieser Reaktoren: 25 Jahre.

Statistik zu Atomkraftwerken weltweit in Betrieb (Quelle: IAEA)
Atomkraftwerke weltweit in Betrieb, ein kürzlich stillgelegter Meiler ist noch nicht berücksichtigtBild: IAEA.org

In einem vom Bundesumweltministerium in Auftrag gegebenen Gutachten haben Experten einmal ausgerechnet, wie viele neue Kernkraftwerke bis 2015 in Betrieb gehen müssten, wenn die alten es auf eine Gesamtlaufzeit von 40 Jahren schaffen würden: Das wären weltweit 42 neue Reaktoren durchschnittlicher Kapazität. Zusätzlich zu den laut IAEA-Statistik "im Bau befindlichen", versteht sich. Und im folgenden Jahrzehnt noch einmal 192. Die Autoren des "Welt-Statusberichtes Atomindustrie 2009" halten es für extrem unwahrscheinlich, dass so viele Neubauten tatsächlich realisiert werden können.

Engpässe bei Fertigungskapazität und Personal

Reaktorfahrer im mittlerweile stillgelegten Atomkraftwerk Obrigheim (Foto: dpa)
Qualifiziertes Personal wird Mangelware: Reaktorfahrer im mittlerweile stillgelegten Atomkraftwerk ObrigheimBild: dpa

Von politischen Widerständen von Seiten der Regierung oder der Bevölkerung einmal ganz abgesehen gäbe es nämlich mittlerweile ernsthafte Engpässe bei Fertigungskapazitäten, bei den notwendigen Fachkräften und bei der Finanzierung, so die Studie. Diese Probleme sieht auch Hans-Holger Rogner von der IAEA, aber er hält ein Gegensteuern immer noch für möglich, wenn man das politisch nur wolle: "Klar, wenn ich die Kernenergie 20 Jahre lang totgeredet habe, hat keiner in Komponenten investiert in der Herstellung, die Leute sind nicht mehr auf Hochschulen gegangen und haben dort Kernphysik oder Nukleartechnik studiert. Da gibt es sicher einen Nachholbedarf, wenn auf einmal das Ruder umgeworfen werden soll. Es ist möglich, wenn ich eben diese Langfristperspektive habe. Wir haben ja vor 50 Jahren auch bei Null angefangen und dann innerhalb von 20 Jahren praktisch 35-40 Reaktoren ans Netz bringen können pro Jahr. Das war möglich. Inzwischen ist die Welt gewachsen, die Wirtschaft ist größer geworden; ich sehe keinen Grund, warum das nicht noch mal wiederholt werden kann - solange eben die Rahmenbedingungen stimmen."

Der alte Kerntechnik-Optimismus ist dahin

Verlassene Gebäude vor dem Atomkraftwerk von Tschernobyl (Foto: AP)
Verlassene Gebäude vor dem Atomkraftwerk von TschernobylBild: AP

Und das heißt vor allem: die politischen Rahmenbedingungen. Aber ob die jemals wieder so atomkraftfreundlich werden wie ehedem, das darf zumindest für die westlichen Industriestaaten und deren Bevölkerungen stark bezweifelt werden. Die spektakulären Störfälle wie Harrisburg oder Tschernobyl sind unvergessen; kleinere Pannen und vor allem auch der Umgang damit lassen immer wieder Fragen aufkommen, ob die Betreiber die Technik wirklich so zuverlässig im Griff haben, wie sie behaupten.

Problemfall Atommüll

Hinzu kommt das Problem Atommüll und die Frage nach einer sicheren Endlagerung. Auch das sei eher ein politisches denn ein technisches Problem, findet Rogner: "Wenn man sich die Mengen des Abfalls anschaut, dann sind die fantastisch gering. Und ich meine, dass wir die Möglichkeit haben und das Wissen, mit denen vernünftig umgehen zu können. Wir haben ein Abfallproblem im Energiesystem, das ganze CO2 ist ein Abfallproblem. Wenn ich mir anschaue, welche Materialien in der Herstellung von Solarzellen verwandt werden, Schwermetalle, gewisse Chemikalien; das ist alles auch nicht so sauber. Deswegen sage ich: vergleichen. Es gibt keine hundertprozentig ideale Lösung, es gibt keine Lösung ohne Risiko und Interaktion mit der Umwelt."

Die Renaissance der Kernenergie: wieder einmal nicht in Sicht

Ob die Risiken der Kernkraft tatsächlich nicht "unvertretbar anders als die aller anderen Energieträger" sind, wie Rogner meint, darüber lässt sich trefflich streiten. Was viele Menschen zusätzlich beunruhigt: Zu den bei der Konstruktion von Atomkraftwerken berücksichtigten "herkömmlichen" Risikoszenarien ist mittlerweile noch das Thema "Terror" hinzugekommen. Die "Renaissance" der Kernkraft: des einen Wunsch, des anderen Horrorgemälde. In Sicht ist das globale Comeback der Atommeiler jedenfalls nach wie vor nicht.

Autor: Michael Gessat

Redaktion: Susanne Eickenfonder