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"Wir brauchen eine Dritte Deutsche Einheit!"

15. Oktober 2009

Armin Laschet, NRW-Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration, äußert sich im Gespräch mit Eren Güvercin über den Wandel der Einwanderungsgesellschaft und die fehlenden Aufstiegschancen von Migranten.

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Der nordrhein-westfälische Familienminister Armin Laschet im Düsseldorfer Landtag (Foto: dpa)
NRW-Minister Armin LaschetBild: picture-alliance/ dpa

Herr Laschet, Sie schreiben in ihrem Buch "Die Aufsteigerrepublik", dass Deutschland eine neue Mentalität braucht, die jedem Bürger gesellschaftlichen Aufstieg ermöglicht. Wie soll diese Mentalität aussehen?

Armin Laschet: Wir haben in den 50er und 60er Jahren in Deutschland erlebt, dass eine ganze Generation den Aufstieg erleben konnte. Mein Vater ist ein gutes Beispiel dafür: Er war Bergmann, wurde später Lehrer und seine Kinder konnten studieren. Einen Aufstieg haben sehr viele Menschen nach dem Krieg geschafft. Diese Mentalität, diese Anstrengungen, sind irgendwann zum Erliegen gekommen. Heute entscheidet vielmehr die Herkunft über den Aufstieg. Deshalb brauchen wir eine neue Mentalität, die einerseits den Aufstieg fördert - das ist Aufgabe des Staates -, die andererseits aber auch jedem Einzelnen das Gefühl vermittelt, wenn ich mich anstrenge, kann ich es schaffen.

Sie formulieren in Ihrem Buch die Vision, dass im künftigen Deutschland die soziale und ethnische Herkunft nicht zu den entscheidenden Kriterien für gesellschaftlichen Aufstieg gehören werde. Heute sieht die Realität aber anders aus …

Ja, sie sieht anders aus, weil man es bisher nicht im Blick gehabt hat. Man hat gedacht, wir sind kein Einwanderungsland und deshalb haben wir diese Förderung nicht systematisch gemacht. Und die, die es geschafft haben, waren meistens Zufälle. Im Buch erzähle ich von Hatice Akyün, in deren Straße regelmäßig ein Bücherbus kam, sie hat deshalb das Lesen begonnen. Bei anderen hat ein Lehrer geholfen, ein besonders engagierter Elternteil hat sich gekümmert oder die Nachbarn haben nach den Hausaufgaben geschaut. Diese Unterstützung muss aber systematisiert werden, das muss durch den Staat gefördert werden. Insofern ist die Realität heute noch nicht so, wie ich sie mir wünsche.

Was kann die Politik also machen, damit diese Vision Realität wird?

Grundschüler mit ihrer Lehrerin im brandenburgischen Görzig (Foto: dpa)
Förderung ist schon im frühen Kindesalter wichtigBild: picture-alliance/ ZB

Sie kann bei den Kindern anfangen. Wenn ein Kind in die Schule kommt, muss es die Sprache sprechen, um mithalten zu können. Das ist noch längst nicht überall der Fall, übrigens auch bei deutschen Kindern nicht, bei denen zu Hause manchmal die Sprache auch nicht mehr gepflegt wird. Deswegen haben wir gesagt, wir brauchen verpflichtende Sprachtests mit vier Jahren, Förderung schon im Kindergarten, mehr Ganztagsangebote, die auch außerschulische Bildungsinhalte wie musische, naturwissenschaftliche und künstlerische Bildung bei den Kindern fördern. Das muss sich dann fortsetzen im gesamten Schulsystem, wo die Durchlässigkeit größer sein muss. Wer gut ist, soll auch schneller von der Hauptschule auf die Realschule oder das Gymnasium wechseln können. Das kann man nur durch individuelle Förderung erreichen.

In den letzten Jahren ist aber unter den türkischen Hochschulabsolventen eine Tendenz zu erkennen: Sie verlassen nach ihrem Abschluss Deutschland Richtung Türkei, weil sie sich dort bessere Berufsaussichten erhoffen. Was muss der Staat machen, um diese Abwanderung von gut ausgebildeten Fachkräften aufzuhalten? Sie sind ja schließlich wertvolles Potenzial, die zum großen Teil in Deutschland geboren sind?

Wie groß die Zahl wirklich ist, weiß man nicht. Aber dennoch sind wir seit 2008 ein Auswanderungsland. Es gehen mehr junge Leute weg, als Einwanderer dazukommen, und deshalb müssen wir um jeden Einzelnen werben. Wir müssen Perspektiven aufzeigen und den jungen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte das Gefühl geben, dass sie mit ihren Qualifikationen hier die gleichen Chancen haben, wie jemand, der Schmidt oder Müller heißt. Das hat sich noch nicht überall durchgesetzt. Ich glaube, wenn wir die Vorbilder, die es schon gibt, sichtbar machen, dann entwickelt sich auch eine Stimmung, bei der man sagt: Ich bleibe doch hier, eigentlich bin ich hier geboren, eigentlich ist das mein Land.

Sie schreiben, dass die innere Einheit noch nicht da sei, und dass wir eine Dritte Deutsche Einheit brauchen. Wie soll die soziale Kluft überwunden werden? In der Gesellschaft herrscht eine gewisse Skepsis gegenüber Muslimen…

Musliminnen auf der Deutschen Islamkonferenz in Berlin (Foto: dpa)
Deutsche Islamkonferenz in Berlin: Ort des DialogsBild: picture alliance/dpa

Ich würde zunächst nicht sagen, dass es nur eine muslimische Frage ist. Es ist keine religiöse, sondern es ist eine soziale Frage. Wer hat die Chance zum Aufstieg, und wer hat sie nicht? Dass das Land auch lernen muss, mit unterschiedlichen Kulturen und auch Religionen umzugehen, ist die eine Seite. Dafür gibt es die Deutsche Islamkonferenz, dafür gibt es auch vor Ort inzwischen viele Dialoge. Das ist der eine Teil. Der andere ist der Aufstiegsteil, die "Dritte Deutsche Einheit", wie ich sie nenne.

Die erste Deutsche Einheit war die Integration von zwölf Millionen Vertriebenen, was damals auch schwer war. Ein Katholik, der in ein protestantisches Dorf kam, war oft ausgegrenzt und hatte wenig Chancen. Mischehen waren verboten oder vor dem 2. Konzil für katholische Gläubige nicht erlaubt. Auch da hat sich vieles gewandelt.

Die zweite Einheit war die zwischen Ost und West. Im Moment der Wiedervereinigung haben viele Zuwanderer gemerkt, dass sie in die dritte Reihe gerückt sind. Sie waren schon länger da und hatten dann das Gefühl, weggerutscht zu sein. Insofern glaube ich, dass jetzt die Zeit gekommen ist, an dieser dritten Einheit zu arbeiten. Wir müssen alles tun, dass die Neudeutschen, die jetzt da sind, auch die optimale Förderung und Aufstiegsperspektiven erhalten.

Sie sind der erste Integrationsminister in Deutschland - und CDU-Politiker. Sie haben zu Recht gesagt, dass wir gleiche Chancen für Bürger mit Migrationshintergrund brauchen. Das hört sich alles gut an, aber wieso gibt es dann in der CDU keinen einzigen Abgeordneten mit Migrationshintergrund?

Ja, eine gute Frage! Das ist ein Problem, das über die Jahre entstanden ist. Es gibt gar nicht so viele Mitglieder mit Zuwanderungsgeschichte. Erst jetzt beginnt es, dass viele in die Partei eintreten. Es gibt bei uns natürlich das Deutsch-Türkische Forum und andere Aktivitäten, aber das ist alles noch am Anfang. Das muss wachsen. Und in den anderen Parteien ist es auch nicht so berauschend. Im Landtag von Nordrhein-Westfalen ist überhaupt kein Abgeordneter mit Zuwanderungsgeschichte. In Köln ist Lale Akgün bei der SPD aus dem Bundestag gefallen, weil sie auf der Landesliste nicht auf einem aussichtsreichen Platz abgesichert wurde. So groß ist die Begeisterung in den anderen Parteien auch nicht. Fünf Türkeistämmige in einem Bundestag mit über 620 Abgeordneten sind zu wenig.

Das Interview führte Eren Güvercin (Qantara.de)
Redaktion: Wim Abbink

Armin Laschet ist Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen. Sein Buch: "Die Aufsteigerrepublik - Zuwanderung als Chance" ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.

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