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SeitenWechsel

21. Juli 2009

Manager, die Obdachlose betreuen, Vorstandsmitglieder, die sich um drogenabhängige Jugendliche kümmern: Beim Projekt SeitenWechsel sammeln Führungskräfte aus der Wirtschaft ganz neue Erfahrungen.

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Ältere Frau nimmt eine Telle Suppe in einer Suppenküche für Obdachlose (Foto: dpa)
Manager sammeln neue Erfahrungen, zum Beispiel in der SuppenkücheBild: dpa

Barbara Zastrozynski musste nicht lange überlegen, als ihr Vorgesetzter ihr im Rahmen eines Fortbildungsangebotes das SeitenWechsel-Projekt vorschlug. Die 45-Jährige ist seit 2002 Managerin im Infrastrukturmanagement der Itergo GmbH. Das IT-Unternehmen ist eine Tochtergesellschaft des ERGO Versicherungskonzerns, zu der Marken wie D.A.S, DKV, Hamburg-Mannheimer und Victoria gehören. Die ERGO AG ist einer der größten Versicherungskonzerne in Deutschland und Marktführer bei Kranken- und Rechtschutzversicherungen in Europa. Barbara Zastrozynski ist für die Entwicklung der IT-Technologien verantwortlich, auf deren Grundlage die selbstentwickelten, konzernweiten Versicherungsanwendungen laufen. Zahlen, Statistiken und Budgetverwaltung gehören zu ihrem Alltag.

Vom Schreibtisch an die Front

IT-Managerin Barbara Zastrozynski bei der Essensausgabe (Foto: Leyla Winther)
IT-Managerin Barbara Zastrozynski bei der EssensausgabeBild: Leyla Winther

Für ihr Praktikum hatte sich die IT-Managerin die Fachberatungsstelle HORIZONT in Düsseldorf ausgesucht. Rund 100 wohnungssuchende und obdachlose Menschen kommen täglich hierher, um sich Rat zu holen, zu essen und zu trinken. Die meisten Besucher halten sich im Café auf, aber auch Büroräume, eine Kleiderkammer und Duschräume stehen ihnen zur Verfügung. Barbara Zastrozynski begleitete während ihres Praktikums eine Streetworkerin, half bei der Lebensmittelausgabe und nahm an Beratungsgesprächen teil. Berührungsängste hatte sie nicht. Aber das Projekt war für sie eine Herausforderung. Sie wollte testen, wie sie ohne ihre hierarchische Position und ohne adäquate Ausbildung in einer Welt zu Recht kam, die sie vorher nicht kannte. Und sie wollte die menschliche Seite kennen lernen, die in ihrem Joballtag zu kurz kommt: "Ich wollte zurück kommen zu den Menschen, die wir nur als so genannte Ressource sehen und bei Projekten in Liniendiagrammen verplanen. Das hat mich sehr bewegt und beschäftigt."

Gabriele Kölchens ist seit einem Jahr als Ein-Euro-Jobberin in der Einrichtung eingestellt. Die 58-jährige ist für die Essensausgabe und die Kleiderkammer zuständig und hat Barbara Zastrozynski eingearbeitet. Sie hofft, dass mehr Unternehmen ihre Chefs zu einem Praktikum dieser Art bewegen können, damit führende Angestellte auch diese Seite des Lebens kennen lernen und mehr Verständnis für ihre Situation haben.

Positives Feedback

Eingang der ERGO AG in Düsseldorf (Foto: DW)
Die ERGO AG schickt ihre Manager regelmäßig zum Projekt SeitenWechselBild: DW

Für Mario Vaupel ist das eine Selbstverständlichkeit. Als Leiter der Management Academy der ERGO AG betreut er auch das SeitenWechsel-Projekt innerhalb des Unternehmens. Bis zu 20 Führungskräfte pro Jahr meldet er zu dieser besonderen Form der Weiterbildung an. Das Projekt ist freiwillig, nicht verpflichtend für die Manager. Bisher hat er positives Feedback erhalten und möchte, dass mehr Mitarbeiter daran teilnehmen. Sie stellen sich hier neuen Herausforderungen, lernen soziale Verantwortung und den Umgang mit hilfsbedürftigen und sozial schwachen Menschen. Eigenschaften, die im Managementalltag zu kurz kommen.

SeitenWechsel wurde 1994 in der Schweiz als Weiterbildungskonzept für angehende und bereits aktive Führungskräfte ins Leben gerufen. Seit 2000 existiert es auch in Deutschland. Knapp 1000 Männer und Frauen aus allen Führungsebenen haben bereits in der Behindertenbetreuung, in der Psychiatrie, im Hospiz, in der Suchthilfe oder im Strafvollzug gearbeitet. Die Liste der Unternehmen liest sich wie das 'who is who' der deutschen Wirtschaft.

Maria Wrede von der Kölner Freiwilligen Agentur e.V. leitet das Projekt SeitenWechsel in Nordrhein-Westfalen. Sie weiß, dass soziale Kompetenzen in Zeiten der Technisierung und Globalisierung für Arbeitgeber immer wichtiger werden. Durch das SeitenWechsel-Projekt haben sie eine Möglichkeit, soziales Engagement und Verantwortung zu stärken und eine neue Unternehmenskultur und Unternehmensethik zu schaffen, sagt sie. "Wenn ein Unternehmen soziale Kompetenz zeigen will, kann es das nur durch seine Mitarbeiter erreichen. Und da fängt man am besten ganz oben an." Aber auch die sozialen Einrichtungen profitieren von den neuen Kontakten zu Wirtschaftsunternehmen. Denn die bleiben oft über das einwöchige Praktikum hinaus langfristig bestehen.

Alle Seiten profitieren

Obdachloser in der Fußgänerzone (Foto: DW)
Neue Erfahrungen für Manager: Obdachloser in der FußgänerzoneBild: DW/Kate Bowen

Für diese besondere Form des Persönlichkeitstrainings zahlen die Unternehmen 2100 Euro plus Mehrwertsteuer für jeden SeitenWechsler. 650 Euro gehen an die Einrichtungen, 1450 Euro erhält die Organisation, die das Projekt in der jeweiligen Region oder in dem entsprechenden Bundesland leitet. Davon zahlt sie auch Lizenzgebühren an den Schweizer Urheber.

Für Barbara Zastrozynski war der SeitenWechsel eine Bereicherung: "Mein Blick für Menschen hat sich geschärft. Und meine Sicht auf Menschen ist viel differenzierter geworden." Während ihrer Woche im HORIZONT in Düsseldorf war sie mit Menschen und ihren Problemen konfrontiert, die ihr bis dahin fremd waren, die sie aus dem Joballtag nicht kannte. Sie möchte auch in Zukunft mit der Einrichtung in Kontakt bleiben und bei dem einen oder anderen Projekt mitmachen. In ihrer Funktion als leitende IT-Managerin hat sie sich vorgenommen, nicht nur dienstlich mit ihren Mitarbeitern zu kommunizieren, sondern auch mal den Menschen mit seinen privaten Interessen, aber auch Problemen kennen zu lernen. In persönlichen Gesprächen.

Autor: Leyla Winther

Redaktion: Rolf Wenkel