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Die weiße Schwester

5. Juli 2009

Eigentlich hat Judith Retz aus München Sozialpädagogik studiert – beste Voraussetzungen für ein ganz normales Leben in Deutschland. Doch dann reiste sie für ihre Diplomarbeit nach Indien. Und fand dort ihre Erfüllung.

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Judith Retz und ehemalige Straßenkinder (Foto: DW/Hartmann)
Judith Retz und die ehemaligen Straßenkinder ihres Heartkids-HomeBild: DW/Hartmann
Einweihung
Judith Retz mit Ehemann Viji und Sohn Surya bei der traditionellen Einweihung ihres KinderdorfsBild: DW/Hartmann

Eine staubige, überfüllte Straße. Menschen drängeln sich an Marktständen. Gelbe Auto-Rikschas schlängeln sich zwischen ihnen hindurch, bedacht darauf, niemanden anzufahren. Ein steiles weißes Marmordach ragt gen Himmel: ein Shiva-Tempel. An einem Tee-Stand steht eine Weiße, die einzige weit und breit: Judith Retz trinkt einen Chai und beobachtet das Treiben um sich herum. Seit sechs Jahren lebt die gebürtige Münchnerin in Tiruvanamalai in der südindischen Provinz Tamil Nadu. Das erste Mal kam sie als Touristin, erzählt sie. Als sie die Armut auf den Straßen sah, war ihr schnell klar, dass sie sich irgendwie engagieren wollte.

Judith Retz flog zurück nach Freiburg im Breisgau, wo sie Sozialpädagogik studierte. Dort rekrutierte sie ein paar Spender. Mit dem Geld wollte sie in Tiruvanmalai ein Projekt gründen, eine Art Hausaufgabenbetreuung für Straßenkinder. Zwei, drei Monate plante sie anfangs für ihren Aufenthalt. Doch dann erhielt sie mehr Spendengelder als erwartet. Deshalb entschied sie sich, ein Grundstück zu kaufen und Häuser bauen zu lassen – um den Straßenkindern von Tiruvanamalai ein zu Hause zu geben: Das Heartkids-Home. Aber mit kaufen allein war es ja nicht getan. Also blieb sie.

Verheiratet mit einem Kastenlosen

Und dann lernte sie auch noch Viji kennen, ihren heutigen Ehemann. Viji ist ein "Unberührbarer", ein Kastenloser. Das erzählte er ihr aber erst wenige Tage vor der Hochzeit. Aus Angst, sie könnte es sich vielleicht noch einmal anders überlegen. Die "Unberührbaren" stehen in Indien außerhalb des Kastensystems und gelten als "unrein". Zum Teil meiden Mitglieder anderer Kasten sogar den Kontakt mit deren Schatten.

Kindergarten
Auch ganz kleine Kinder leben im Heartkids-Home. Fast alle von ihnen sind WaisenBild: DW/Hartmann

In den vergangenen 20 Jahren hat die Politik versucht, die Kastensysteme zu überwinden – mit Bildungs- und Universitätsprogrammen für "Unberührbare". Trotzdem ist das Kastendenken oft noch in den Köpfen der Menschen verankert. An eine wirkliche Gleichberechtigung ist in der extrem hierarchisch aufgebauten indischen Gesellschaft kaum zu denken. In eine Kaste wird man hineingeboren – entkommen kann man ihr kaum. Hellhäutige Menschen wiederum genießen in Indien besonderes Ansehen. Für viele Menschen in Tiruvanamalai ist eine solche Misch-Ehe daher ein unüberwindbarer Widerspruch.

Für die heute 32jährige Judith Retz ist dieser Gegensatz nicht wichtig, für die indische Gesellschaft allerdings schon. Besonders in einer 100.000 Einwohner-Stadt wie Tiruvanamalai, nach indischen Verhältnissen eine Kleinstadt. Touristen kommen kaum hierher –auch deswegen ist die Deutsche im Ort bekannt wie ein bunter Hund.

Soziale Kontrolle an allen Ecken

Das hat aber auch zur Folge, dass Judith Retz in Tiruvanamalai ständig beobachtet wird. "Soziale Kontrolle" nennt sie das. Anders als normale Touristen muss sie sich an das indische Leben sehr genau anpassen: kein Alkohol, keine Zigaretten, immer bedeckt gekleidet sein. Wenn sie einmal länger als üblich aus dem Haus ist, wird ihr Mann mit Sicherheit von den Nachbarn darauf angesprochen, erzählt sie.

So ganz zu Hause in Tiruvanamalai fühlt sich Judith Retz daher auch nach sechs Jahren noch nicht. Aber vor allem für ihr Projekt, das Heartkids-Home, lohnt es sich zu bleiben.

Heartkids - Home
Vier der neu gebauten Häuser für das Heartkids-HomeBild: DW/Hartmann

Und das Heartkids-Home wächst weiter

Sieben Häuser sind mittlerweile auf dem Grundstück entstanden, rund 60 Straßenkinder haben hier eine Heimat gefunden. Judith Retz nennen sie "aka", tamilisch für Schwester. Die Kinder gehen zur Schule und Judith Retz hofft, dass sie mit ihrer Ausbildung einmal eine Chance im Leben haben werden. Sie selbst sieht ihre neue, asiatische Heimat aber immer noch ein bisschen skeptisch. Ganz sicher, ob sie für immer bleiben will, ist sie nicht. "Das wird das Leben entscheiden", sagt sie.

Im Moment erwartet Judith Retz ihr zweites Kind – entbinden wird sie es in Deutschland. Da fühlt sie sich einfach besser medizinisch betreut. Doch danach will sie so schnell wie möglich wieder zurück – zu ihren indischen Kindern.

Autorin: Gisela Hartmann

Redaktion: Thomas Latschan