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Wie freiwillig kann die Arbeit für Juden in einem Ghetto gewesen sein?

2. Juni 2009

Das Bundessozialgericht hat zu den Rentenansprüchen ehemaliger Ghetto-Insassen Grundsätze verabschiedet, mit denen die Rechte überlebender Nazi-Opfer gestärkt werden.

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Fassade und Haupteingang des Bundessozialgerichtes in Kassel (Foto: dpa)
Das Bundessozialgericht in KasselBild: picture alliance/dpa

Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Die Antragsteller sind hoch betagt. Als Kinder oder junge Erwachsene arbeiteten sie zwischen 1939 und 1945 in deutschen Fabriken in jüdischen Ghettos und schufteten dort bis zur Erschöpfung. Doch sie arbeiteten quasi freiwillig, außerhalb der Zwangsmechanismen also, und sogar gegen so etwas wie Entlohnung. Und es wurden Sozialversicherungsbeiträge gezahlt, doch Rentenbezüge haben die meisten bis heute nicht erhalten.

Jüdisches Ghetto in Wilna (Foto: AKG)
Das jüdische Ghetto in WilnaBild: picture alliance/akg-images

Erst Historiker konnten vor rund zehn Jahren belegen, dass die Nationalsozialisten neben Zwangsarbeitern auch Juden auf freiwilliger Basis in deutschen Fabriken beschäftigten. 70.000 Holocaust-Überlebende hatten bis zur angegebenen Frist am 30.06.2003 bei der Deutschen Rentenversicherung Anträge gestellt. Das Ghetto-Renten-Gesetz bot dafür die Grundlage. Dieses Gesetz war 2002 einstimmig vom Deutschen Bundestag verabschiedet worden. Damit sollte eine Lücke der Wiedergutmachung Deutschlands an den Holocaust-Opfern geschlossen werden. Denn Zwangsarbeitern hatte der Gesetzgeber damals bereits die Möglichkeit eröffnet, Entschädigungsansprüche geltend zu machen.

Die Beweispflicht lag beim Antragsteller

Deportation von Juden aus Lodz, 1940 (Foto: AKG)
Deportation von Juden aus Lodz, 1940Bild: picture-alliance / AKG

Opfer, die ihre Rente erhalten wollten, mussten bislang überzeugend darlegen, dass sie aus eigenem Willen in Diensten der Nazis gestanden hatten - ein schwieriges Unterfangen: Denn können die jüdischen Bewohner eines Ghettos ihren Aufenthalt dort überhaupt mit dem Begriff "freiwillig" definieren? Den Betroffenen blieb nur der Rechtsweg.

Beim Anrufen der Sozialgerichte konnten die meisten Kläger allerdings keine Lohnabrechnungen vorlegen, da die Arbeitgeber keine Abrechnungen ausgaben und mitunter in Naturalien zahlten. Allerdings scheuten sich viele Betroffene, nochmals nach Deutschland zu reisen. Oder sie waren aufgrund ihres Alters und ihrer Verfassung dazu gar nicht mehr in der Lage. Jan-Robert von Renesse, Richter am nordrhein-westfälischen Landessozialgericht in Essen, hatte sich persönlich nach Israel begeben, um Betroffene dort zu befragen. Er bemängelte, dass es auf den Antragsformularen keinen wirklichen Platz gebe, um das persönliche Schicksal zu dokumentieren.

Neue Grundsätze

Das Bundessozialgericht entschied nun, dass NS-Opfern für Arbeit in Ghettos grundsätzlich eine Rente zusteht. Dabei sollen Betroffene auch dann Zahlungen aus der Deutschen Rentenversicherung (DRV) erhalten, wenn im Ghetto Arbeitspflicht bestand und die Entlohnung ausschließlich in Naturalien erfolgte oder an Dritte floss. Weder die Höhe der Bezahlung noch das damalige Alter der Betroffenen beeinflussen den Rentenanspruch. Bisher wurden weniger als zehn Prozent der sogenannten Ghetto-Renten tatsächlich bewilligt. Es geht zumeist um Monatsrenten zwischen 100 und 200 Euro.

Autorin: Karin Jäger

Redaktion: Hartmut Lüning