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"Erlaubt ist, was nicht gefunden wird"

29. Mai 2009

In einer historisch einmaligen Aktion hat die Deutsche Reiterliche Vereinigung alle Nationalmannschaftskader aufgelöst. Sie reagiert damit auf die jüngsten Doping- und Manipulationsskandale im deutschen Reitsport.

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Christian Ahlmann und sein Pferd Cöster beim Sprung über ein Hindernis (Foto: ap)
Scharfe Salbe: Christian Ahlmann und CösterBild: AP

Man stelle sich vor: Der Deutsche Fußball-Bund würde nach einer Serie von Dopingskandalen auf einen Schlag die Nationalmannschaft auflösen und dazu auch noch das Nationalteam der Frauen. Fast undenkbar. Im deutschen Reitsport ist aber jetzt genau das geschehen: Die Deutsche Reiterliche Vereinigung, kurz FN (für Fédération Equestre Nationale), hat nach einer Reihe von Manipulationsvorwürfen gegen deutsche Reiter die Notbremse gezogen und die Nationalkader für Spring-, Dressur- und Vielseitigkeitsreiten aufgelöst. Der viermalige Olympiasieger Ludger Beerbaum wurde bis auf Weiteres für die Nationalmannschaft gesperrt. Übertragen auf den Fußball wäre das so, als dürfte Michael Ballack nicht mehr das Nationaltrikot überstreifen.

Wer wusste davon?

Porträt des Springreiters Ludger Beerbaum (Foto: ap)
Viermaliger Olympiasieger Ludger BeerbaumBild: AP

Eben dieser Ludger Beerbaum hatte das Fass mit der Aufschrift "Doping und Manipulation im Reitsport" zur Explosion gebracht. In einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" zur verbotenen Behandlung von Turnierpferden mit Medikamenten hatte der langjährige deutsche Vorzeigereiter eingeräumt: "In der Vergangenheit hatte ich die Haltung: Erlaubt ist, was nicht gefunden wird." Er fügte zwar noch hinzu "Das ist heute nicht mehr aufrechtzuerhalten", doch dieser Nachsatz interessierte kaum noch jemanden. Ein tiefer Abgrund tut sich auf: Wenn schon Beerbaum, der jahrelang die Leitfigur des deutschen Reitsports war, seine Pferde mit Medikamenten "getunt" hat, wie sieht es dann erst bei schwächeren Reitern aus, bei denen die Schwelle zur Manipulation eigentlich tiefer liegen müsste? Und wer wusste davon? Betreuer, Teamärzte, Funktionäre?

Von wegen Gentlemen im Sattel

Omertà nennt die Mafia die Verpflichtung ihrer Mitglieder zur Verschwiegenheit. Möglicherweise bringt Beerbaum die "Mauer des Schweigens", die Omertà im deutschen Reitsport, zum Einsturz, indem er den ersten Stein herausgezogen hat. Das Bild der Gentlemen im Sattel, die bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften Medaillen in Serie sammeln, hat seit einiger Zeit tiefe Risse bekommen. Beim olympischen Reitturnier in Hongkong 2008 wurde Christian Ahlmann aus dem Verkehr gezogen, weil er seinem Pferd Cöster eine scharfe Salbe verabreicht hatte. Vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass Marco Kutschers Pferd Cornet Obolensky in Hongkong zwischen zwei Springen fit gespritzt worden war. Das Pferd hatte einen Schwächeanfall erlitten. Die Behandlung war nicht angemeldet. Kutscher hatte einst Beerbaums Pferde eingeritten, ehe er selbst Karriere machte.

Springreiterin Meredith Michaels-Beerbaum auf Shutterfly bei den Olympischen Reitspielen 2008 in Hongkong (Foto: picture-alliance)
Ludger Beerbaums Schwägerin Meredith Michaels-Beerbaum bei den Olympischen Reitspielen in HongkongBild: picture-alliance / Sven Simon

Ex-Verfassungsrichter im Einsatz

Die Reiterliche Vereinigung FN steht seit einiger Zeit unter Druck. Der Weltverband wirft den deutschen Funktionären vor, zu nachlässig gegen Manipulation im Reitsport vorzugehen. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ARD und ZDF erwägen, nach den Skandalen der letzten Zeit auf die Übertragung von Reitturnieren zu verzichten. Die Verhandlungen über einen neuen Vertrag mit der FN liegen auf Eis. Eine wichtige Geldquelle droht damit zu versiegen. Vor diesem Hintergrund muss die historisch einmalige Aktion, alle Kader aufzulösen, gesehen werden. Der Verband zieht sich aus der Verantwortung, indem er sie in andere Hände legt. Eine unabhängige Kommission des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) soll jetzt klären, wie weit Doping und Manipulation im deutschen Reitsport verbreitet sind und auch Strafen für Reiter und Funktionäre vorschlagen.

Die Sportler sind durch den Beschluss der FN nicht plötzlich arbeitslos. Sie dürfen nach wie vor als Einzelstarter bei hochdotierten Turnieren reiten, wenn sie dafür aufgrund ihrer guten Position in der Weltrangliste qualifiziert sind. Außerdem ist die Tür zum Nationalkader ja nicht für immer zugeschlagen. Allerdings muss jeder Reiter, der in den Kader zurück will, vor der DOSB-Kommission Rede und Antwort stehen - und dabei einem ehemaligen höchsten Richter ins Auge sehen: Vorsitzender des Gremiums ist der 69 Jahre alte Jurist Udo Steiner, der von 1995 bis 2007 Mitglied des Bundesverfassungsgerichts war.

Autor: Stefan Nestler

Redaktion: Joachim Falkenhagen