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Die französische Anne Frank

17. April 2009

In Frankreich gilt sie bereits als die französische Anne Frank: die Jüdin Hélène Berr, gestorben 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Hinterlassen hat sie ein Tagebuch – ein Zeitdokument von literarischem Rang.

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Porträt Hélène Berr (Foto: Mémorial de la Shoah/Collection Job)
Hélène Berr war 21 Jahre alt, als sie begann Tagebuch zu schreibenBild: Mémorial de la Shoah / Collection Job

Ihr Name ist im hellen Marmor eingraviert: "Hélène Berr, 1921-1945". Sie ist eine von 76.000 ermordeten Juden Frankreichs, an die im "Mémorial de la Shoah" in Paris erinnert wird. In der Dauerausstellung der Gedenkstätte bekommt der Name ein Gesicht: ein Schwarzweißfoto zeigt eine fröhliche, junge Frau mit strahlendem Blick.

Ein Tagebuch, das sich liest wie ein Roman

In der Vitrine liegt ihr Tagebuch. Es ist aufgeschlagen, die Seite zeigt Eintragungen vom 9. Mai 1942. Mit blauer Tinte und gut leserlich steht da geschrieben:

Mein Gott, ich habe nicht geglaubt, dass es so hart sein würde. Den ganzen Tag über hatte ich Mut. Ich ging mit hocherhobenem Haupt und habe den Leuten so fest ins Gesicht geblickt, dass sie die Augen abwandten. (...) Es war, als hätte ich ein rotes Brandmal auf der Stirn.

Hélène Berr und ihr Verlobter Jean Morawiecki
Hélène Berr und ihr Verlobter Jean Morawiecki (1942)Bild: Mémorial de la Shoah / Collection Job

Mit dem "Brandmal" meint Hélène Berr den Davidstern, den sie auf Verordnung des Vichy-Regimes zum ersten Mal tragen muss. Erst jetzt begreift die 21-Jährige, was es bedeutet, als Jüdin im besetzten Frankreich zu leben. Bis zu diesem Tag erzählte die Tochter einer wohlhabenden, assimilierten Familie in ihrem Tagebuch von ihrem Studium der Anglistik an der Sorbonne, ihren Ausflügen ins Pariser Umland und ihrer Begegnung mit diesem "Jungen mit den grauen Augen", in den sie verliebt ist. Den Krieg erwähnte sie bis dahin kaum. Für den Verleger und Historiker Antoine Sabbagh ist dies das Faszinierende an dem Tagebuch, "dass es uns zunächst etwas Unerwartetes zeigt: nämlich ein glückliches Leben in Paris im Frühjahr 1942. Und plötzlich kippt ihr Leben: Hélène Berr wird von der Geschichte eingeholt."

Verhaftung und Tod

Im zweiten Teil des Tagebuches spricht eine unglaublich reif gewordene, junge Frau. Anders als Anne Frank lebt Hélène Berr nicht versteckt. Als ihr Vater zum ersten Mal verhaftet wird, engagiert sie sich bei einer jüdischen Organisation und kümmert sich um Kinder internierter oder bereits deportierter Juden. Von der Bedeutung ihrer Aufzeichnungen für die Nachwelt überzeugt, schreibt sie penibel alles auf: Selbstmorde, Razzien, Deportationen von Schwangeren und alten Menschen, Gerüchte über Giftgas in versiegelten Zügen an der polnischen Grenze. "Ich führe ein posthumes Leben", notiert sie im Winter 1943.

Denken, dass ich, wenn ich heute Abend verhaftet werde, in acht Tage in Oberschlesien bin, vielleicht tot, dass mein ganzes Leben plötzlich erlischt, mit all dem Unendlichen, das ich in mir fühle.

Im März 1944 wird Hélène Berr zusammen mit ihren Eltern verhaftet. Sie stirbt ein Jahr später im KZ Bergen-Belsen an Typhus und an Misshandlungen – fünf Tage vor der Lager-Befreiung durch die Briten. Sie ist 24 Jahre alt.

Langer Weg zur Veröffentlichung

Buchcover Pariser Tagebuch 1942 - 1944
Bild: Hanser Verlag

Es ist Mariette Job, der Nichte von Hélène Berr, zu verdanken, dass ihre Stimme 60 Jahre nach ihrem Tod nicht verstummt ist. Die losen Blätter des Tagebuches hatte Hélène nach und nach der Köchin zu Hause anvertraut - mit der Bitte, sie Jean Morawiecki, ihrem Verlobten, zu geben. Er war 1942 dem Appel des Général de Gaulle gefolgt und hatte sich den alliierten Truppen in Nordafrika angeschlossen.

In den 1990er Jahren nahm Mariette Job wieder Kontakt mit ihm auf. Sie hatte bis dahin nur Abschriften des Tagebuches gelesen und fürchtete, das Original könnte mit ihm verschwinden. Schließlich schenkte Jean Morawiecki ihr das Manuskript. Bis zur Veröffentlichung dauerte es aber noch vierzehn Jahre. Für die meisten Familienmitglieder sei es zu intim und schmerzhaft gewesen, sagt sie. Das Tagebuch von Hélène Berr ist ein erschütterndes Zeitdokument aus dem besetzten Paris. Es ist aber auch das Zeugnis einer sehr sensiblen und zugleich starken, aufrechten Frau.

Autorin: Guylaine Tappaz
Redaktion: Petra Lambeck

Hélène Berr: "Pariser Tagebuch 1942-1944". Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, 320 S. 21,50 Euro.