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Pro und Contra: Der Kopftuchstreit

27. Februar 2009

Der Kopftuchstreit in Deutschland schlägt erneut hohe Wellen. Felix Steiner hält das Kopftuchverbot im Staatsdienst für legitim. Peter Philipp meint, Deutschland braucht Wahlfreiheit.

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Artikelbild Pro & Contra
Bild: DW

Als Angela Merkel am 22. November 2005 ihren Amtseid als Bundeskanzlerin ablegte, schloss sie diesen mit der Formel "so wahr mir Gott helfe". Damit offenbarte sich die Kanzlerin als gläubige Christin. Im Widerspruch zur deutschen Verfassungsordnung steht sie damit nicht - im Gegenteil. Sie darf ihr Amt sehr wohl als Christin wahrnehmen - aber eben nicht nur für Christen oder unter Bevorzugung von Christen. Hierin liegt der entscheidende Unterschied.

Der Staat ist plural

Würden sich alle Deutschen von ihr vertreten fühlen, wenn sie ein Kopftuch trüge? Mit Sicherheit nicht. Mit dieser öffentlichen und für alle sichtbaren Demonstration "Ich bin Muslima" würde sie jedem jeden Tag aufs Neue deutlich machen, auf welchem geistigen - sprich religiösen - Fundament sie steht. Genau das kann und darf als Erbe der Aufklärung im Europa des 21. Jahrhunderts nicht sein. Weltliche und religiöse Herrschaft sind getrennt. Kein religiöser Führer ist mehr Oberhaupt eines Flächenstaates, kein weltlicher Staats- oder Regierungschef kann von seinen Bürgern Gefolgschaft in religiösen Fragen verlangen. Der moderne europäische Staat ist plural - seine Bürger können dieses oder jenes oder auch überhaupt nichts glauben. Und deswegen wird Angela Merkel bestenfalls als Angela Merkel am Ostersonntag zur Kirche gehen, niemals jedoch als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland.

Gesicht und Sinnbild des Staates sind seine Beamten. Ist der Staat weltanschaulich neutral, müssen es auch seine engsten Mitarbeiter, also seine Beamten sein. Weil ich mir nämlich nicht aussuchen kann, welcher Finanzbeamte meine Steuerschuld festlegt, welcher Polizei-Beamte mein Verhalten im Straßenverkehr ahndet, oder welcher Lehrer meine Kinder unterrichtet. Ich muss mich darauf verlassen können, dass er oder sie es auf einer weltanschaulich neutralen Grundlage tut.

Keine Diskriminierung

Ist das nun eine Diskriminierung? Keineswegs. Denn wer sich dieser Neutralität und dem Verzicht auf entsprechende Attribute in seiner Kleidung oder was auch immer nicht unterwerfen mag, der kann problemlos andere Berufe ergreifen. Wenn ich in einer Bäckerei mit Kopftuch tragenden Verkäuferinnen nicht bedient werden mag, dann kann ich in die nächste Bäckerei gehen, also nach einer Alternative suchen. Gegenüber dem Staat gibt es diese Alternative nicht - deswegen bestehe ich auf seiner Unabhängigkeit.

Wovor hat der Staat Angst? Lesen Sie hier, warum sich Peter Philipp strikt gegen eine Kopftuchverbot ausspricht.

Politiker und Richter machen es sich schon recht einfach, wenn sie das Tragen eines Kopftuches durch eine Lehrerin untersagen: Die Mehrheit der Lehrerinnen ist davon nicht betroffen, sie sind nicht muslimisch. Und unter ihren männlichen Kollegen findet sich in Deutschland wohl kaum ein religiöser Jude, der mit Hut oder Kippah in den Unterricht käme. Die Bestimmung betrifft also nur die wenigen Musliminnen, die in Deutschland so weit integriert sind, dass sie Lehrerinnen geworden und bereit sind, Teil dieser Gesellschaft zu sein, ohne dafür auf ihre Religion und deren Äußerlichkeiten zu verzichten.

Peter Philipp (Quelle: DW)
Peter Philipp, DW-Experte

Wovor hat der Staat oder hat die Justiz denn Angst? Dass muslimische Volksschullehrerinnen mit Kopftuch den kleinen Fritz oder Oskar zu ihrer Religion bekehren? Doch wohl nicht im Ernst: Täten sie es, dann könnte, ja müsste man es ihnen untersagen. Wie man es ja auch einer christlichen Lehrerin nicht gestattet, in der Schule zu missionieren.

Entscheidend: Die Qualifikation

Das Entscheidende bei der Einstellung einer Lehrerin sollte deren fachliche Qualifikation sein. Und zwar ausschließlich. Nach dem Motto: Was im Kopf ist, zählt, nicht was drauf ist. Indem man einer Lehrerin untersagt, das Kopftuch zu tragen, setzt man überdies ein weiteres bedenkliches Zeichen: Die Kinder bekommen vermittelt, dass etwas falsch und verboten ist am Tragen eines Kopftuches. Unter diesem Aspekt werden sie künftig Musliminnen mit Kopftuch sehen, denen sie heute ja doch überall in Deutschland begegnen.

Isolierung und Diskriminierung werden dadurch offiziell sanktioniert. Unter dem Vorwand, radikalen Tendenzen Einhalt gebieten zu wollen, verbietet der Staat mündigen Bürgerinnen ein Kleidungsstück zu tragen, das sie für sich als unabdingbares Attribut ihrer Religion betrachten. Wollte man Frauen davor schützen, zum Kopftuch gezwungen zu werden, dann sollte man es tun wie in Frankreich: den Schülerinnen das Kopftuch in der Schule verbieten. Von einer Lehrerin sollte man annehmen, dass sie frei entscheidet, was sie anzieht.

Beispiel Kruzifix

Man könnte es ja so handhaben wie beim Kruzifix-Urteil: Da hatte das Bundesverfassungsgericht ursprünglich befunden, dass kein Kreuz im Klassenzimmer hängen dürfe, wenn jemand daran Anstoß nehme. Die Praxis sieht längst anders aus: Wer sich dran störe, der habe ja Alternativen. Übertragen: Wer an einer Lehrerin mit Kopftuch Anstoß nimmt, der könnte ja in eine andere Klasse wechseln. Fakt ist, dass in keinem der bisher bekannten Kopftuchprozesse Eltern Anstoß nahmen. Das waren immer Beamte oder Politiker - denen ging es dabei bestimmt um etwas anderes als die Ausbildung in deutschen Schulen.