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"Kinder! macht Neues!"

Dieter David Scholz8. Januar 2002

Folge 12: Hundert Jahre Parsival. Am Jubiläums-Pasival (1982) entzünden sich Debatten um Wagners Antisemitismus

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Zum hundertsten Jubiläum der Bayreuther Festspiele 1976 inszenierte der Franzose Patrice Chéreau den "Ring des Nibelungen" Richard Wagners. Es war ein Höhepunkt der Festspielgeschichte.

Der von Pierre Boulez dirigierte Ring war auch musikalisch ein Ereignis. Die Produktion wurde bis 1980 gezeigt, wie ja jede Produktion Bayreuths im Schnitt fünf Jahre lang gegeben und jedes Jahr neu einstudiert und verändert, oft auch verbessert wird.

Wolfgang Wagner brachte 1981 eine neue Inszenierung der "Meistersinger" heraus, die Kritiker waren sich fast alle einig: die Produktion sei altbackener denn je, fränkisch volksnah und vordergründig.

Inzwischen hatte der Berliner Regisseur und Opernintendant Götz Friedrich – sieben Jahre nach seinem "Tannhäuser"-Skandal – einen neuen "Lohengrin" inszeniert, in sehr abstrakten, technologisch-sterilen, schwarz-stählernen Bühnenbildern Günther Ueckers, die wenig Verständnis bei Publikum und Presse fanden. Auch musikalisch war die Produktion keine herausragende. Dagagen war Jean-Pierre Ponnelles Debüt am Grünen Hügel mit dem "Tristan" 1981 zumindest ein bildnerisches Ereignis: so französisch-impressionistisch, so malerisch-farbenreich und poetisch-romantisch hatte man noch keinen "Tristan" in Bayreuth erlebt. Der zweite Akt, der unter einem riesigen, ständig die Farben wechselnden Laubbaum an einer sprudelnden Quelle zwischen Farnen und Moosen spielte, hat sich zweifellos jedem Festspielbesucher nachhaltig eingeprägt. René Kollo und Johanna Meier als Titelpaar, Matti Salminen als König Marke und Hanna Schwarz als Brangäne bildeten ein vorzügliches Ensemble, darin waren sich alle Kritiker einig. Über die Leistungen des Dirigenten Daniel Barenboim hingegen gingen die Meinungen weit auseinander.

Daniel Barenboims Bayreuther "Tristan"-Dirigat spaltete Publikum und Presse: die einen hielten ihn für den allerschlechtesten Dirigenten, der jemals in Bayreuth am Pult stand, die anderen für den neuen großen Wagnerinterpreten. Tatsache ist, daß Barenboim von 1981 bis Ende der Neunzigerjahre neben James Levine und Giuseppe Sinopoli zu einer Bayreuther Institution wurde, zu einem der drei Hauptdirigenten Bayreuths. Jeder dieses Trios sollte künftig den "Ring" leiten. Und jeder brachte seine Sängerriege mit, die ebenso in Berlins Staatsoper Unter den Linden, an der New Yorker Metropolitain Opera oder in Wien zu hören war. Bayreuth wurde dadurch musikalisch austauschbarer denn je.

Als das Jahr 1982 nahte, in dem sich die Uraufführung des "Parsifal" zum hundertsten Male jährte, wollte Wolfgang Wagner natürlich einen neuen Höhepunkt setzen. Er verpflichtete Götz Friedrich mit einer Neuinszenierung des "Bühnenweihfestspiels". Andreas Reinhardt war der Ausstatter dieser Produktion. Seine Bühnenbilder waren zumindest ungewöhnlich: er installierte einen quasi quergelegten Raum, der gleichermaßen an Gralstempel, Katakomben oder ein Mausoleum denken ließ, wobei die eindeutigen Grenzen zwischen oben und unten, hinten und vorn, Tiefe und Höhe verschwammen. Zweifellos waren die Worte des Gurnemanz "Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit" der Ausgangspunkt dieser Bühnenbild-Idee.

Der "Jahrhundert-Parsifal" von Götz Friedrich und Andreas Reinhardt war allenfalls kalendarisch ein Jahrhundertwerk. Künstlerisch blieb er hinter den in ihn gesetzten Erwartungen zurück. Es war ein säkularisierter "Parsifal", den Götz Friedrich zeigte, einen gesellschaftlichen Kommentar ohne religiöse Bedeutung: eine elitäre, geschlossene Gesellschaft hatte ihr Mitleid und ihre Menschlichkeit verloren, was sie an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Am Ende schimmerte nur das Utopia einer friedlichen Gesellschaft auf. Eine Konzeption, mit der sich der Dirigent James Levine – wie er öffentlich bekannte – nicht anfreunden konnte. Er ließ den "Parsifal" in unendlich langsamen Tempi spielen, die Publikum wie Kritikern enorme Geduld abverlangte. In der Premierenserie feierte die genau drei Jahrzehnte zuvor von Wieland Wagner entdeckte Leonie Rysanek - inzwischen ein internationaler Star am Ende seiner Karriere - ihr Bayreuther Comeback als Kundry, was zumindest als faszinierende Kuriosität gelten konnte. Aber schon im folgenden Jahr ersetzte man sie durch eine junge, vielversprechende Mezzosopranistin, die fortan in Bayreuth und von Bayreuth aus Karriere machen sollte: Waltraud Meier:

Der "Jahrhundert-Parsifal" Götz Friedrichs und James Levines offenbarte keine wirklich neuen Einsichten in das "Weltabschiedswerk" Richard Wagners. Der "Parsifal" ist eine ästhetische Provokation, ein Gegenentwurf zur Bürgerwelt und enthält noch immer Sprengsatz für uns heute. Er ist keinesfalls religiösem, sakralem, sondern utopischem Denken verpflichtet! Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen im Umkreis des "Jahrhundert-Parsifals" wollten allerdings das Gegenteil glauben machen. Die zum Teil absurden Behauptungen, die in Umlauf gebracht wurden, gipfelten in der These des Germanisten Hartmut Zelinsky, des lautstärksten und obsessivsten der Wagnerverächter, im "Parsifal" kulminiere eine Wagnersche "Vernichtungsideologie", eine rassistische "Blutideologie", in der "die Erlösung des arischen Jesus vom Judentum den zentralen Hintergrund" bilde. Eine absurde Behauptung! Immerhin hob Wagner selbst am 14. Dezember 1881 gegenüber seiner Gattin Cosima mit Nachdruck hervor, "daß 'Parsifal' sein versöhnendstes Werk sei."

Der "Parsifal" ist, wie Wagner es selbst formulierte, seine "letzte Karte": Eine sehr persönliche Lebens-Summe auch in handwerklich-kompositionstechnischer Hinsicht. In nahezu sämtlichen Gestalten und wesentlichen Handlungsmomenten auch eine Rekapitulation des Wagnerschen Gesamtwerks, und insofern tatsächlich ein "Weltabschiedswerk".

Wagner hat übrigens allen Spekulationen über eine eindeutig christlich-religiöse Intention des Werks, darüber, daß Parsifal ein Abbild Christi sei, am 20. Oktober 1878 im Gespräch mit Cosima eine eindeutige Absage erteilt: "Ich habe an den Heiland dabei gar nicht gedacht.", hat er Cosima gesagt. Sie notierte es in ihrem Tagebuch. Es geht im "Parsifal" auch nicht um Rassenkonflikte, nicht um den Gegensatz von Judentum und Christentum, sondern einzig und allein um den Gegensatz von heidnischer Sinnlichkeit und christlicher Askese, von Sexualität und Verzicht, Egoismus und Mitleid, Eros und Agape oder anders gesagt, Moral und Amoralität. Ein Gegensatz, der das gesamte Oeuvre Wagners seit dem "Tannhäuser" durchzieht. Auch im "Ring" steht dieses Thema im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zwischen Fricka und Wotan:

Harry Kupfers "Ring" von 1988 war insofern ein Lichtblick in Bayreuth, als der vorherige ein beispielloser Mißerfolg war. Zweifellos mußte es nach Chéreaus "Jahrhundert-Ring" jeder neue "Ring" schwer haben. Aber Peter Halls und Georg Soltis "Ring", der 1983 die Chéreau-Inszenierung ablöste, wurde allgemein als einer der größten Flops Bayreuths betrachtet. Schon wegen der teilweise deprimierend biederen und einfallslos vordergründigen Regiearbeit Peter Halls, über die selbst Friedelind Wagner (die Schwester Wolfgang Wagners) in der Münchner Abendzeitung meinte, es sei "die größte Amateur-Show", die sie je gesehen habe. Ein namhafter Kritiker sprach bereits von der "Bayreuth-Dämmerung". Auch Georg Solti, der überragende Wagner-Dirigent, hatte erstaunlicherweise in Bayreuth keine Fortüne. Nach dem ersten "Ring"-Jahr kehrte er nicht mehr nach Bayreuth zurück. Auch Regisseur und Ausstatter weigerten sich, diesen "Ring" noch einmal in Angriff zu nehmen. Bedauerlich war es vor allem deshalb, weil Hildegard Behrens´ Brünnhilde unter diesem Regiekonzept litt.

Bei Harry Kupfers fünf Jahre nach Solti inszeniertem "Ring" konnte man gegenüber Peter Halls anspruchsloser Produktion eher ein Zuviel an Aktion, an ideologischem Ballast und Aussagewillen feststellen. Kupfer wollte mit einem Optimum an neuer Bühnentechnologie und aktionistischer Personenführung eine zeitgemäße Parabel darüber erzählen, wie die Mächtigen betrügen, lügen, terrorisieren und töten, um ihr egoistisches Macht- und Besitzstreben zu befriedigen und dabei die Unschuldigen - die ganz normalen Menschen also – zerstören, und letztlich damit auch sich selbst. Mit einem Großeinsatz einer aufwendigen Laserstrahleninstallation, mit metallglänzenden Industriearchitektur-Fragmenten und eindeutigen optischen Anspielungen ans Hier und Heute wagte dieser "Ring" wenigstens eine konkrete und eine politische Aussage jenseits vordergründigen Mummenschanzes, der den Peter Hall-Ring von vornherein disqualifizierte.

Trotzdem wurde eines deutlich: Auch Bayreuth konnte sich inzwischen den kommerziellen Marktgesetzen einer Vernetzung von Marketingstrategien nicht mehr widersetzen. Nahezu das gesamte Sängerensemble des Kupfer-Barenboim-"Rings" wurde anschließend auch in der "Ring"-Produktion der Berliner Staatsoper eingesetzt. Wie selbstverständlich hat sich natürlich auch Bayreuth mittlerweile in großem Stile multimedial vermarkten lassen. Auf Video- und CD-Produktionen namhafter Plattenfirmen sind deren Bayreuther Stars allgegenwärtig.