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Keine Gewalt!

6. Januar 2009

In Leipzig kam der Stein für die friedliche Revolution in der DDR ins Rollen. Von den Friedensgebeten zu den Montagsdemonstrationen: DW-WORLD.DE sprach mit dem ehemaligen Pfarrer der Nikolaikirche, Christian Führer.

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Christian Führer, Quelle: dpa
Christian Führer - Initiator der Leipziger FriedensgebeteBild: picture-alliance/ dpa

DW-WORLD.DE: Genau einen Monat vor dem Fall der Mauer - am 9. Oktober 1989 - kam es in Leipzig zur bis dahin größten unangemeldeten Demonstration der DDR mit 70.000 Menschen - eine Menge, gegen die die SED nichts ausrichten konnte. Wie konnten so viele Leute mobilisiert werden?

Demonstrationszug, Quelle: dpa
"Wir wollen keine Gewalt! Wir wollen Veränderungen!" Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989Bild: picture-alliance/dpa

Christian Führer: Das ist die Frage, die sich immer wieder stellt. Durch die kontinuierlichen Friedensgebete, die in der Leipziger Nikolaikirche von 1982 an jeden Montag stattfanden, waren wir immer ein Anlaufort für kritische Leute, für Anliegen, die in der DDR nicht artikuliert werden durften - und das war bekannt geworden. Einen dramatischen Zahlenzugang hatten wir, nachdem die Staatsmacht seit dem 8. Mai 1989 die Zufahrtsstraßen der Nikolaikirche absperrte. Sie dachte, durch diese Abschreckung würde die Zahl der Menschen weniger werden, aber genau das Gegenteil war der Fall. - Zur Herbstmesse am 4. September hatten dann westliche Fernseh-Teams eine Drehgenehmigung für die ganze Stadt. Die standen alle vor der Kirche als wir herauskamen, und da wurde von unseren Leuten ein Schild entrollt: "Für ein offenes Land mit freien Menschen". Das hing vielleicht 15 Sekunden in der Luft, bevor es von Stasi-Leuten runter gerissen wurde, aber das alles eben vor laufenden westlichen Kameras. Das kam dann abends in den Nachrichten, so dass nicht nur Menschen in den alten Bundesländern wussten, was da in Leipzig los ist, dass sich da erstaunliche Dinge tun, sondern auch in der ganzen DDR - wir haben ja alle Westfernsehen geguckt.

Dann kam der 7. Oktober 1989, der 40. Jahrestag der DDR.

Da kam es vor der Nikolaikirche in Leipzig zu hunderten von Verhaftungen. Honecker persönlich hatte gesagt: "Die Nikolaikirche muss dicht gemacht werden." Die Polizisten waren erstmalig in einem Aufzug, wie wir ihn noch nicht kannten - mit Kampfanzug, Knüppeln, Hunden, Schilden - und haben die Menschen zusammengeschlagen. Den ganzen Tag, von mittags bis abends. Und in der Zeitung stand: "Am Montag (9. Oktober) wird mit der Konterrevolution Schluss gemacht - wenn es nicht anders geht, mit der Waffe in der Hand." Am 8. Oktober kamen Ärzte in den Gottesdienst und sagten, dass in den Krankenhäusern Abteilungen für Schussverletzungen freigemacht werden mussten. Und so kam der 9. Oktober mit einer furchtbaren Angst heran.

Wie verlief dann die Massendemonstration am 9. Oktober?

Frauen und Kinder mit Kerzen, Quelle: dpa
"Option Kerze heißt Option Gewaltlosigkeit"Bild: picture-alliance/dpa

Wir haben 6000 bis 8000 Menschen in die Kirchen der Innenstadt bekommen, mehr gingen nicht rein, aber 70.000 waren gekommen. Wir kamen gar nicht aus der Kirche raus, der ganze Nikolaikirchhof war voller Menschen! Alle hatten Kerzen in der Hand - und Kerze heißt Gewaltlosigkeit: da brauchst du beide Hände, sonst geht die Kerze aus, da kannst du nicht noch einen Stein oder einen Knüppel in der Hand halten. Ein Mitglied des Zentralkomitees der SED hat im Rückblick gesagt: "Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete." Dafür hatte die Polizei keinen Einsatzbefehl. Wenn Steine geworfen worden wären oder man auf die Polizisten losgegangen wäre, dafür hatten sie eine Option, da wäre es so geworden wie immer. So zogen sich die Panzer zurück, und als sie oben am Gewandhaus wieder angekommen waren, ohne dass geschossen worden war, da wussten wir: die DDR ist jetzt nicht mehr dieselbe wie am frühen Morgen. Da ahnten wir mehr als wir es wussten, dass hier etwas Großartiges geschehen ist. Richtig verstanden haben wir es allerdings erst später.

Sie haben immer zu Gewaltlosigkeit aufgerufen und den Demonstrierenden Mut gemacht, sich nicht von der Armee einschüchtern zu lassen - selbst als diese schon Panzer auffahren ließ. Woher nahmen Sie die Gewissheit, dass alles friedlich bleiben würde?

Diese Gewissheit hatten wir überhaupt nicht. Wir hatten Tag und Nacht Angst, aber der Glaube war immer größer als die Angst. Wir wussten von Jesus her von der Macht der Gewaltlosigkeit und dass das das einzige ist, was wir einsetzen können. Denn in dem Moment, wo wir auf Gewalt setzen, werden wir wie die Gegenseite, und dann geht der Segen Gottes weg von uns. Das habe ich den Jugendlichen bei den Friedensgebeten vermitteln können, und die haben das erstaunlicherweise alle mit vollzogen und auf Gewalt verzichtet. Wir haben dann erlebt, dass - was mich bis heute unglaublich berührt -, die Massen in diesem unchristlichen Land die Seligpreisung der Bergpredigt Jesu in zwei Worte gefasst haben: "Keine Gewalt!" Und sie haben es nicht nur gerufen, sondern sie haben auch konsequent Gewaltlosigkeit praktiziert. Wenn je etwas das Wort Wunder verdient, dann ist es das. Uns ist noch nie eine Revolution gelungen, das war das erste Mal - und gleich ohne Blutvergießen. Und das war hier tatsächlich der Anstoß.

Das heißt, ohne die Leipziger hätte es die friedliche Revolution in der DDR nicht gegeben?

Außenansicht der Nikolaikirche, Quelle: dpa
Die Leipziger Nikolaikirche - weltweit ein Symbol des Wendeherbstes 1989Bild: picture-alliance/ ZB

Ich denke nicht. Wir hatten ja einige Dinge, die es woanders nicht gab: diese regelmäßigen Friedensgebete jede Woche über diese lange Zeit hin, dann die starke Gruppe von Ausreisewilligen. Diese Einheit bei uns, dass sie unter unserem Kirchendach zusammengeblieben sind, das ist tatsächlich etwas, was andernorts nicht passiert ist. Und die haben dann auch die Massen gebracht. Es sind aus der ganzen DDR Leute gekommen; am 9. Oktober 1989 kamen nicht nur 70.000 Leipziger und Sachsen, sondern die kamen aus allen Teilen der Republik. In der Nikolaikirche saß exemplarisch die ganze DDR. Ohne Leipzig hätte es weder den 9. November 1989 und schon gar nicht den 3. Oktober 1990 gegeben.

Was bleibt heute von der friedlichen Revolution in der DDR?

Ich denke, wir brauchen auch heute wieder den Mut, die Zivilcourage, sich einzumischen und nicht zu sagen: die werden es schon richten oder irgendwie wird es schon gehen, sondern Verantwortung für das Land zu übernehmen. Wir Deutschen haben schon an den unsinnigsten Stellen Opfer gebracht. Jetzt lohnt es sich einmal wirklich, an einer richtigen Stelle Opfer zu bringen, sich einzusetzen, Schwierigkeiten auf sich zu nehmen - für dieses geeinte Deutschland, dieses wunderbare Land, diese Demokratie. Ich denke, da sollten wir nicht mit der alten deutschen Befindlichkeit über alles und jedes meckern und immer irgendwo ein Haar in der Suppe finden, sondern jetzt sagen: Das ist unser Land, und wir wollen diese Demokratie, die mit viel Mut und unter wirklicher Lebensgefahr hart erkämpft worden ist, auch gestalten. Das können wir am einfachsten durch eine hohe Wahlbeteiligung, denn das war zum Beispiel auch eine der Forderungen des Herbstes 1989: Freie Wahlen! All das haben wir jetzt.

Sie sagen "Deutschland, wunderbares Land, wunderbare Demokratie", aber trotzdem haben Sie heftige Kritik am Einheitsprozess geübt. Was lief Ihrer Meinung nach schief?

Demonstrationszug, Quelle: dpa
Montagsdemonstration am 23. Oktober 1989 in LeipzigBild: dpa

Die deutsche Einheit zu schaffen, wo es sich bot, also dieses Angebot von Gorbatschow im Juli 1990 im Kaukasus - das musste sofort ergriffen werden. Aber wir hätten mehr Zeit gebraucht, die Einheit verantwortlich zu gestalten. Ich denke da an folgende Dinge: der 9., nicht der 3. Oktober wäre das richtige Datum für den Nationalfeiertag gewesen. Das hätte dem Selbstbewusstsein der Menschen in der ehemaligen DDR den gebührenden Platz gegeben, denn hier im Osten ist die Voraussetzung zur Einheit ohne fremde Hilfe geschaffen worden. Das zweite: der Name. Der kann doch nicht einfach weiter BRD bleiben. Das ist für mich ein Teil Deutschlands von 1949 bis 1989. Stellen Sie sich mal vor, wir hätten gewollt, dass das neue Deutschland DDR heißt! Die hätten uns ja für psychiatriereif erklärt! So hat das bei den Westdeutschen den Eindruck erweckt: wir heißen so, wir bleiben so, wir nehmen die paar aus dem Osten mit dazu, renovieren mal kurz die DDR durch und dann ist alles tutti paletti. So ist es eben genau nicht gewesen. Und schließlich die Hymne: dieses Lied ist durch die Nazis für alle Zeiten so verdorben und besudelt worden, das kann nicht die Nationalhymne sein. Was hat der Westen eigentlich Neues gekriegt? Die Postleitzahlen und ein paar Autonummern - und das war schon fast zu viel an Zumutung! Aber hier im Osten hat sich ja alles geändert! Das konnte nicht gut gehen. Das sind ein paar Dinge, die für den Prozess der Einheit schwierig sind.

In der Nikolaikirche finden weiterhin Friedensgebete statt. Die Menschen beten beispielsweise für Afrika, eine gentechnikfreie Landwirtschaft oder die Aktion Sühnezeichen. Wäre es nicht besser, gegen einen großen Missstand zu mobilisieren als jede Woche für etwas anderes zu beten?

Demonstranten vor der Nikolaikirche halten ein Plakat mit der Aufschrift 'Weg mit Hartz IV - Das Volk sind wir' hoch, Quelle: AP
Im August 2004 protestierten die Leipziger gegen die Pläne zur Arbeitsmarktreform Hartz IVBild: AP

Wir haben jedes Jahr drei Friedensgebete zum Thema Arbeitslosigkeit, haben 1992 einen Gesprächskreis "Hoffnung für Arbeitslose" an der Nikolaikirche gegründet. Da gab es auch viele Demonstrationen - wochenlang. Das wird von der Bevölkerung auch hoch angesehen. Und gegen den Neofaschismus passiert auch immer etwas. So haben wir einen Hamburger Neonazi gehabt, der bis zum Jahr 2014 jeden 1. Mai und 7. Oktober Neonazi-Aufmärsche in Leipzig beantragt hat. Von 2001 bis 2007 hat er sie auch gemacht. Da sind wir von der Kirche aus den Nazis immer entgegen gezogen - gewaltlos versteht sich. Und wir haben tatsächlich erreicht, dass der Neonazi 2007 aufgegeben hat. Und auch in anderen Städten bewegen wir etwas. Die sächsische Kleinstadt Colditz zum Beispiel ist immer von Neonazis heimgesucht worden, die Stadt war in Angst und Schrecken. Da haben wir gesagt: wir wollen uns jetzt mal wieder Mut aus der Kirche holen. Unter dem Thema "Eine Stadt steht auf" haben wir mit der Stadt zusammen einen großen Tag gestaltet und ein Friedensgebet, die Pfarrerin und die Vereine dort haben sehr viel gemacht, da haben wir ein deutliches Signal gesetzt.

Und jetzt tauchen die Rechtsextremen in Colditz nicht mehr auf?

Die werden wohl noch auftauchen, aber wenn die Bevölkerung sich nicht mehr so verängstigen lässt, dann ist ein großer Schritt nach vorne getan. Wichtig ist immer, dass die Bevölkerung sich nicht terrorisieren lässt von einigen wenigen, die viel Krawall machen und den Eindruck erwecken, dass sie stark sind - die leben nur von der Angst der anderen Seite. Und diese Angst gilt es zu nehmen - übrigens auch beim Thema Arbeitslosigkeit und bei allem, was den Menschen Schwierigkeiten macht. Und dazu ist das Friedensgebet nach wie vor eine ganz großartige Möglichkeit.

Christian Führer war von 1980 bis 2008 Pfarrer der Leipziger evangelischen Nikolaikirche. Im März 2008 ging er in den Ruhestand.

Autorin: Julia Elvers-Guyot

Redaktion: Claudia Unseld