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„Nein“ zum Wirtschaftswachstum um des Wachstums willen

Christine Siebert 29. Oktober 2008

Es gibt sie noch, aber in neuer Form: Aussteiger aus der Konsumgesellschaft, Kommunen, Althippies. Die „Décroissance“-Bewegung macht die gereiften Ansätze jetzt salonfähig. Décroissance heißt: Wachstumsrücknahme.

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Einkaufswagen (2002/AP)
Eine andere von Leben, die nicht so stark von Konsum geprägt ist, das wollen die Anhänger der Decroissance-Bewegung.Bild: AP

Eine traditionelle Spinnerei, Gemüsebeete und hausgemachter Strom über eine Turbine am Bergbach – in der Kommune der Longo-Mai-Kooperative im Alpen-Ski-Ort Serre-Chevalier in Frankreich lebt der 25-jährige Jules mit elf weiteren Kommunenmitgliedern abseits der gewohnten Wege. Die spartanische Lebensform ist für ihn sein persönliches „Nein“ zum Konsum- und Wachstumswahnsinn der heutigen Gesellschaft.

Er wolle niemandem vorschreiben, wie er zu leben habe, sagt Jules. Aber vielleicht könne er mit seiner Lebensweise andere Menschen zum Nachdenken bewegen: „Ich denke, wenn sich manche Leute sagen: ‚Schaut mal, da gibt es ein paar, die anders leben. Vielleicht könnten auch wir darüber nachdenken‘ - dann: umso besser.“

Weniger arbeiten, um besser zu leben

Gemüssebeet in einem Hinterhof
Gemüse aus dem eigenen Beet, Strom aus der Turbine am Bach - gelebte Unabhängigkeit der "Decroissance"-BewegungBild: gruenewelle.org

Immer mehr Franzosen interessieren sich für das „Nein“ zum Wachstum, auch wenn sie ihr Leben nicht so radikal umstellen wie Jules. Sie wohnen in Städten und besuchen Straßencafés, lehren an Unis und veröffentlichen dicke Wälzer über „Notwendigkeit der Wachstumsrücknahme“. Sie geben autonome Zeitungen heraus und sind gut situierte Bürger.

So wie Salih Branki, der seit einem Jahr als Sprecher der „Partei für die Décroissance“ seine Botschaft verbreitet: „Décroissance ist nicht das Gegenteil von Wachstum, sondern eine andere Art zu leben und zu wachsen. Ein intelligentes, nicht ausschließlich materielles Wachstum.“

Bei dem Begriff „Wachstumsrücknahme“ dächten jedoch viele an Armut und Rückkehr zur Steinzeit, sagt Branki. „Sie glauben, Glück bedeute: möglichst viele materielle Güter. Dabei heißt weniger zu konsumieren nicht, weniger zu leben“, ist er sich sicher. Das Motto der Décroissance-Partei laute vielmehr: „Weniger arbeiten, um besser zu leben“ - als Gegenpol zu Sarkozys Parole: „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen.“

Décroissance auf dem Vormarsch

Ein Model geht während der Eröffnung der Millionaire Fair über den Laufsteg (16.10.2008/dpa).
„Décroissance, das ist die Anti-Rezession. Es bedeutet den Ausstieg aus einem System, dessen Krisen vorhersehbar sind.“Bild: picture-alliance/ dpa

Wer weniger konsumiere, habe mehr Zeit, verschwende weniger Ressourcen und verschmutze die Umwelt weniger. Kurz: ein komplettes Gegenprogramm, mit dem die heutige Krisensituation vielleicht sogar vermeidbar gewesen wäre. So jedenfalls sieht es das in Lyon erscheinende Monatsmagazin „La Décroissance“, in dem es heißt: „Décroissance, das ist die Anti-Rezession. Es bedeutet den Ausstieg aus einem System, dessen Krisen vorhersehbar sind.“

20.000 Franzosen kaufen jeden Monat die Zeitschrift „La Décroissance“. Und große Zeitungen wie „Le Monde diplomatique“, „Libération“ und „Le Monde“ veröffentlichen regelmäßig die Analysen von Serge Latouche, Vordenker der Wachstumsgegner und Wirtschafts-Professor an der Universität Paris Sud.

Auch Mitglieder etablierter Parteien diskutieren inzwischen über diese Ansätze. Eine Gruppe von Grünen und Sozialisten haben gemeinsam einen Antrag mit dem Titel „Utopia“ formuliert, den sie im November ihren jeweiligen Parteitagen vorlegen werden. In diesem Antrag wird das bisherige kapitalistische System infrage gestellt: Der Konsum müsse mit dem Streben nach besserer Lebensqualität einhergehen und nicht mit der unbegrenzten Häufung materieller Güter, heißt es in dem Antrag.