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Das Damoklesschwert bleibt

Lydia Leipert27. August 2008

Seit einem Jahr gilt in Deutschland mit Paragraph 104A ein neues Bleiberecht. Rund 19.000 geduldete Ausländer dürfen arbeiten und sich im Land bewegen. Ein Fortschritt, aber dennoch kann jederzeit die Abschiebung drohen.

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Eine Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde gibt ausländischen Mitbürgern Rechtsauskünfte.(21.11.2006/AP)
Bislang durften geduldete Ausländer weder reisen noch arbeitenBild: AP

Bosnisches Gebäck und Mokka stehen auf der gekachelten Tischplatte im Wohnzimmer. Um den niedrigen Tisch sitzt Familie Muratovic beim Nachmittagskaffee. Zoran und Razija Muratovic wohnen mit ihren sieben Kindern in zwei kleinen Wohnungen im Berliner Bezirk Neukölln. Erst vor ein paar Wochen erhielten sie das vorläufige Bleiberecht nach der neuen Regelung; denn sie erfüllten zuvor eine der wichtigsten Bedingungen nicht: Sie hatten keinen Pass. 1991 war die Familie vor dem Bosnien-Krieg nach Berlin geflüchtet. Als das ehemalige Jugoslawien zerfiel, waren sie staatenlos. Seit es ihnen gelang, Pässe zu bekommen darf Zoran Muratovic endlich das, was ihm 17 Jahre lang in Deutschland verboten war: Arbeiten.

"Dieser Paragraph ist gut für meine Kinder", sagt Zoran Muratovic. "Deswegen muss ich ackern, arbeiten, dass die Kinder in Deutschland bleiben können. Ich versuche jede Arbeit zu machen, wenn ich eine finde." Der 53-Jährige muss innerhalb eines Jahres eine Arbeit haben, mit der er seine Frau und seine vier minderjährigen Kinder ernähren kann. Dann erhält die Familie eine richtige Aufenthaltserlaubnis, auch wenn diese wiederum nur befristet wäre.

Neue Regelung kommt zu spät

Symbolbild Paragraphen
Paragraph 104 A erlaubt geduldeten Ausländern, zu arbeitenBild: BilderBox

Aber Zoran hat noch ein ganz anderes Problem: er ist Diabetiker und hatte bereits einen Schlaganfall. Doch nicht nur deshalb wird er bei der Arbeitssuche Schwierigkeiten haben, glaubt sein Sohn Schuki: "Da sehe ich ganz schwarz! Als mein Vater hierher kam, als er noch kräftig, jung und gesund war, hat Deutschland gesagt: Bleib einfach zu Hause!" Erst jetzt auf einmal, wo er krank und 53 Jahre alt sei, gäben sie ihm eine Arbeit. "Es gibt keinen Job, den er jetzt bekommen kann", meint Schuki.

Schuki lebt seit seinem elften Lebensjahr in Deutschland. Zuerst waren er und seine Familie Asylbewerber, später wurden sie geduldet. Deshalb durften Schuki und seine zwei volljährigen Geschwister keine Ausbildung machen. Das habe ihn schon frustriert, sagt der junge Mann mit den kinnlangen schwarzen Haaren und dem Dreitagebart. Die Bleiberechtsregelung findet er zwar gut. Aber für den heute 28-Jährigen komme sie einfach zu spät. Völlig ungelernt sei es für ihn schwer, überhaupt an einen Job zu kommen.

"Ich kann nicht sagen: ich kann jetzt alles machen, jetzt finde ich sofort eine Arbeit", sagt Schuki. So viele Jahre habe er gar nichts gemacht und sei gar nicht daran gewöhnt, morgens früh aufzustehen und Bewerbungen zu schreiben. "Es sind auf einmal sehr komplizierte Sachen auf mich zugekommen", beklagt er. "Mit dem neuen Paragraphen fühle ich mich zwar freier, aber trotzdem eingeschränkt."

Die Angst vor Abschiebung wächst

Eine muslimische Frau mit Kopftuch in einer Fußgängerzone (12.02.2008/AP)
Rund 19.000 Ausländer sind von dem neuen Paragraphen betroffenBild: AP

Deshalb gibt es "Bleiberecht durch Arbeit" – ein Projekt des Diakonischen Werkes Steglitz . Eva Maria Kulla betreut das Projekt und auch Familie Muratovic. Sie will möglichst vielen Menschen praktisch dabei helfen, eine Arbeit zu finden: Zusammen mit einer Kollegin unterstützt sie Betroffene bei der Bewerbung und bei der Suche nach einem Arbeitsplatz. Allein Bewerbungsunterlagen zu erstellen sei jedoch für viele eine große Hürde, sagt sie.

"Mit einem Menschen, der noch nie im Zusammenhang über sein Leben, seine Flucht gesprochen hat – einen Lebenslauf zu erstellen, heißt ja, man rührt alles wieder auf", erklärt Eva Maria Kulla. Und dann kommt die sachliche Schwierigkeit dazu, dass wenige Dokumente da sind, da bei der Flucht vieles einfach verloren gegangen ist oder nicht mitgenommen wurde.

Hinzu kommt, dass viele ausländische Abschlüsse in Deutschland gar nicht anerkannt werden, erklärt Eva-Maria Kulla. Außerdem mangle es gerade im Raum Berlin und Brandenburg an geeigneten Stellen. Die Bleiberechtsregelung sieht sie trotz aller Schwierigkeiten für die Betroffenen als Chance; wenn auch nur für wenige: "Es werden längst nicht alle diese Chance ergreifen können, weil sie es einfach nicht schaffen, einen Job zu finden, mit dem sie die Familie ernähren können." Und es greife jetzt schon die Sorge, was danach eigentlich mit denen passiert, die es nicht schaffen werden. Nach Meinung von Eva Maria Kulla werden es sehr viele sein. Die Angst vor der Abschiebung wachse bei vielen der betroffenen Familien.

Heimat Deutschland

Die Sonnenallee im Berliner Stadtteil Neukölln (29.06.2007)
Familie Muratovic aus Neukölln sieht Deutschland als ihre HeimatBild: picture alliance/dpa

Ein Gefühl, dass auch Schuki Muratovic über lange Zeit begleitet hat: "Diesem Stress jahrelang ausgesetzt zu sein, das drückt schon auf die Psyche", sagt er. Man habe das Gefühl, jede Minute könne sich das Schicksal ändern. Seit Schuki Muratovic durch das neue Bleiberecht eine Aufenthaltserlaubnis hat, kann er ruhiger schlafen, sagt er. Denn er muss nicht mehr alle paar Monate bei der Ausländerbehörde darum bangen, ausgewiesen zu werden. Ein Jahr hat er nun Zeit, einen Job zu finden, mit dem er sich ernähren und seine Miete bezahlen kann. Gerade arbeitet er zur Probe als Zeitungszusteller. Ob er damit genug verdienen wird, weiß er nicht. Aber er will hier bleiben: Deutschland sei doch seine Heimat.