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"Kinder, macht Neues!"

Dieter David Scholz9. November 2001

125 Jahre Bayreuther Festspiele - 50 Jahre Neubayreuth

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Folge 10. Werkstatt Bayreuth
Wieland Wagners Tod (1966) und Wolfgang Wagners Erbschaftssicherung

Rudolf Kempes "Ring"-Dirigat in den Jahren 1960-1963 war musikalisch eine ebenso große Sensation wie ehedem Wieland Wagners "Ring"-Inszenierung. Es war eine musikalische Entsprechung zu den szenischen Konzepten Wielands in "Neubayreuth" und endlich auch ein musikalischer Neuanfang, den die vorhergehenden, führenden "Ring"-Dirigenten in Bayreuth, allen voran Hans Knappertsbusch, aber auch Heinz Tietjen, Herbert von Karajan und Clemens Krauss, nicht hatten leisten können. Kempes "Ring" war die bis dahin musikalisch modernste Interpretation. Er dirigierte einen schlanken, unpathetischen, durchsichtigen und in seinen Strukturen analytisch klaren Ring in straffen Tempi, wie man ihn bis dahin kaum je gehört hatte. Inszeniert hatte Wielands Bruder Wolfgang.

Ein musikalisch fulminanter "Ring", in dem allerdings schon eine Krise des Wagnergesangs ihre Wirkung zeigte, viele Partien wurden an den vier Abenden mit verschiedenen Sängern besetzt. Aber, immerhin: Wagner ohne jede Effekthascherei und ohne jedes hohle Pathos.

Der Tod seines Bruder Wieland 1966 markierte ein abruptes Ende für das aufregendste Kapitel in der Nachkriegs-Geschichte der Bayreuther Festspiele. Wolfgang hatte eine Festspielsituation, ein Operntheater geerbt, das künstlerisch – dank der Neuerungen seines Bruders Wieland – zu den angesehensten und innovativsten in der Welt zählte. Aber schon nach nur wenigen Jahren der Leitung Wolfgangs hatte die internationale Musikwelt das Gefühl, daß der Bayreuther Innovationsschub nachließ. Die Inszenierungen – nicht nur Wolfgangs eigene – wurden wieder konventioneller, altmodischer und beliebiger. Auch die alte Garde der Wielandschen Sängerdarsteller stand nicht mehr zur Verfügung, sängerische Kompromisse waren – von wenigen Sternstunden abgesehen - an der Tagesordnung. Dirigenten und Regisseure wechselten sich ab, neben Routiniers und Altmeistern wie Karl Böhm und Horst Stein oder Erich Leinsdorf kamen nun auch die Newcomer und die jungen Talente zum Zuge. Die Bayreuther Festspiele wurden zur "Werkstatt Bayreuth", in der Neuinszenierungen kontinuierlich überarbeitet werden konnten und sollten, und zwar über einen Zeitraum von fünf Jahren.

Bei allen Vorbehalten gegenüber Wolfgangs Wagners künstlerischen Entscheidungen muß man konstatieren, daß er als Festspielleiter, Manager und Organisator der wohl denkbar bestgeeignetste Festspielchef war. Zu seinen größten Verdiensten gehört die Gründung der Richard-Wagner-Stiftung. Es gelang ihm 1977, nach mehrjährigen Verhandlungen, ein Übereinkommen zwischen der Wagnerfamilie, der Bundesrepublik Deutschland, dem Land Bayern und anderen Vertretern der regionalen Politik und Öffentlichkeit, zu erreichen, den gesamten Wagnerbesitz, also das Festspielhaus, die Villa Wahnfried und das Wagner-Archiv in eine Stiftung öffentlichen Rechts zu verwandeln. Das kriegszerstörte Haus Wahnfried wurde der Stadt Bayreuth geschenkt, die es der Wagnerstiftung verpachtete und als Richard Wagner-Museum wiederaufbaute. Das Festspielhaus wird seither von der Stiftung an Wolfgang Wagner verpachtet, der als Festspielleiter auf Lebenszeit bestellt wurde. Damit wurde die private Institution der Festspiele der Wagners beendet und den Bayreuther Festspielen ein nationaler Status zugestanden, von dem Richard Wagner einst geträumt hatte.

Seit Wolfgang 1966 alleiniger Festspielleiter war, hat er über Jahre hindurch mit klugem Sachverstand alles getan, ihre Fortexistenz zu sichern, juristisch und finanziell. Und er sanierte Schritt für Schritt das Festspielhaus zu einem der bühnentechnisch modernsten Theater der Welt. Darauf ist er zurecht stolz.

"Die Quintessenz ist die, daß ich zumindestens die Bayreuther Festspiele also, soweit durch meine Tätigkeit für die Bayreuther Festspiele überhaupt menschenmöglich ist - gesichert betrachten kann, und das war also auch eine meiner Hauptarbeiten, die ich vollbringen wollte durch die Gründung der Stiftung. Und man wollte verhindern, daß eventuell durch eine Erbauseinandersetzung ie ganze Hinterlassenschaft von ihm, einschließlich des Festspielhauses, irgendwie in eine Lage gerät, daß es alles durch Familienauseinandersetzungen zerfleddert und kaputt geht."

Noch einmal versammelte sich in diesem Ring eine geschlossene Sängerriege auf höchstem Niveau, wie sie später nur noch sehr selten zustandekam: darunter Leonie Rysanek, Martha Mödl, Helga Dernesch, Anja Silja, Theo Adam, Josef Greindl, und Martti Talvela.

Zu den größten stimmlichen Entdeckungen Wolfgangs gehörte das Engagement und die langjährige Festspielbindung der Schwedin Birgit Nilsson, die er schon 1953 zu seinem ersten Lohengrin nach Bayreuth holte, später sang die Nilsson auch Brünnhilde und Isolde. Sechzehn Jahre hindurch war sie – die damals weltweit schon als ein Star des Wagnergesang galt - der unübertroffene hochdramatische Sopran in Bayreuth. Mit Sarkasmus konstatiert sie rückblickend die heutige sängerische Verfassung Bayreuths:

"Bayreuth ist nicht mehr so wie es war, als ich dort war. Es ist auch so, daß man jetzt nicht mehr vom Festspielhaus Bayreuth spricht. Man sagt Werkstatt Bayreuth. Und das deckt ja viel mehr ab. Da kann ja jeder Anfänger in Bayreuth singen!"

Der Wagnergesang kam seit den Siebzigerjahren, als die großen Heldentenöre und hochdramatischen Soprane alter Schule von der Bühne abtraten, in eine ernsthafte Krise, die sich zwangsläufig in Bayreuth besonders bemerkbar machte.

Ein Glücksfall für den Wagnergesang – und Wolfgang Wagner ist es zu verdanken, daß er ihn nach Bayreuth holte – war René Kollo, auch er weiß Gott kein Heldentenor wie Max Lorenz oder Lauritz Melchior, eher das ganze Gegenteil, aber zu seiner besten Zeit, in den Siebzigerjahren ein Tenor, der den Anforderungen Wagners nach Textverständlichkeit und intelligenter sängerischer Phrasierung vollauf Rechnung trug. Seit 1975 sang er in Bayreuth den Parsifal, eine Tenor-Sensation wie nur wenige andere vergleichbare in den Siebzigerjahren. Seit dem Tode Wolfgang Windgassens wurden immer neue Tenöre ausprobiert, verbraucht und ausgewechselt.

An eigenen Inszenierungen hatte Wolfgang Wagner – neben denen seines Bruders, die noch einige Jahre gezeigt wurden - 1967 einen romantisch-konventionellen Lohengrin hinzugefügt. In ihm sang der Ungar Sandor Konya einen belcantischen Schwanenritter. Wolfgang reanimierte im Jahre 1970 auch seine "Ring"-Inszenierung mit dem spöttischerweise als "faltbare Untertasse" bezeichneten Bühnenbild. Dafür engagierte er den profunden Wagnerdirigenten Horst Stein. Ein farbglühender, magisch-expressiver "Parsifal" löste den seines Bruders, der 23 Jahre hindurch auf dem Programm stand, ab. 1968 inszenierte er "Die Meistersinger" als Rückfall in Vor-Wielandsche Zeiten, mit Butzenscheiben-Nürnberg, fränkischer Festwiese und biederem Fachwerkgemäuer. Die "Meistersinger" sollten zum Lieblingsstück Wolfgangs avancieren, das er künftig noch mehrfach inszenierte. Im weithin durchschnittlichen Regieniveau der ersten zehn Jahre nach Wielands Tod hatte Sensationscharakter eigentlich nur der "Tannhäuser", den Götz Friedrich, damals DDR-Regiseur an Ost-Berlins Komischer Oper, 1972 als modernes Künstlerstück mit gesellschaftskritischem Anliegen in Bayreuth inszenierte. Es war der Einzug modernen, gegenwartsbezogenen Regietheaters mit seinen Aktualisierungen in Bayreuth.

Daneben inszenierte August Everding 1969 einen "Fliegenden Holländer", 1974 einen "Tristan", beides in wenig aussagefähigen modernistischen Bühnenbildern von Josef Svoboda mit gespannten Plastikschläuchen, umfangreicher Lichtregie, allerhand Reflektoren und Leinwandkonstruktionen. Aufregend war das szenisch keineswegs.

Allerdings gelang es Wolfgang Wagner, musikalisch noch einmal für eine Sensation zu sorgen, indem er Carlos Kleiber als "Tristan"-Dirigenten verpflichten konnte, wenn auch nur für eine Saison. Auch stimmlich war das noch einmal eine Traumbesetzung: Helge Brilioth sang den Tristan und die junge Catarina Ligendza die Isolde.

Mit dem "Tristan" , den Carlos Carlos Kleiber 1974 setzte Wolfgang Wagner einen letzten musikalischen Höhepunkt vor der anstehenden Hundertjahrfeier der Bayreuther Festspiele im Jahre 1976.

Gegen das, womit das Bayreuther Publikum im Jubiläumsjahr überrascht werden sollte, war Wolfgang Wagners eigene "Meistersinger"- Inszenierung unter Leitung von Silvio Varviso eher mittelmäßig. Immerhin: Karl Ridderbusch sang in dieser Inszenierung einen markanten Hans Sachs. Wie immer präsentierte sich der Chor der Bayreuther Festspiele in gleichbleibender Qualität als mit Abstand bester deutscher Opernchor. Der Nachfolger von Wilhelm Pitz, der ihn 1951 aus dem Nichts heraus aufbaute war Norbert Balatsch. Auch er einer der herausragenden Chorleiter Bayreuths nach dem Krieg.