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"Kinder, macht Neues!"

Dieter David Scholz

125 Jahre Bayreuther Festspiele - 50 Jahre Neubayreuth

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Festspielhaus in BayreuthBild: AP

Folge 11:Hundert Jahre Bayreuth
Chéreaus "Jahrhundert-Ring" (1976) und politische Diskussionen um Wagner und die Deutschen

Wolfgang Wagner leitete seit 1966 in Alleinverantwortung die Bayreuther Festspiele und entwickelte in der darauf folgenden Dekade die Festspiele zu einem kaufmännisch jedenfalls äußerst erfolgreichen Unternehmen. Die letzten Inszenierungen seines Bruders nahm er nach und nach aus dem Repertoire und inszenierte selbst den "Lohengrin", "Die Meistersinger" und den "Parsifal" neu. Es waren handwerklich solide, aber nicht eben aufregende Inszenierungen, die sich auch nicht des großen Zuspruchs der Öffentlichkeit erfreuten.

Seit 1969 überließ Wolfgang Wagner die Bayreuther Bühne anderen Regisseuren, etwa August Everding und Götz Friedrich. Letzterer immerhin, sorgte mit seinem aktualisierten, gesellschaftskritischen "Tannhäuser" im Jahre 1972 für Schlagzeilen. Der "Werkstatt"-Charakter Bayreuths hatte das ursprüngliche Ideal Richard Wagners, in Bayreuth Modellinszenierungen zu entwickeln, endgültig abgelöst.

Wielands Inszenierungen als "work in progress" existierten nicht mehr, und die neuen waren nicht mehr Ziel-, sondern oft nur Ausgangspunkte von Sänger-, Dirigenten- und Regisseurs-Karrieren. Vor allem sängerisch verfolgte Wolfgang Wagner die Strategie, junge, noch keineswegs arrivierte Sänger in Bayreuth zu engagieren und zu großen Stimmen zu entwickelen, auch wenn deren Größe gelegentlich zweifelhaft und nur von kurzer Dauer war. Eines der letzten überragenden sängerischen Glanzlichter steckte der ungarische Tenor Sandor Konya im ersten "Parsifal", nur wenige Wochen nach Wieland Wagners Tod den Bayreuther Festspielen auf. Das war ein "Parsifal" ganz aus dem Geist des Belcanto gesungen: Sandor Konya als Parsifal neben Astrid Varnay als Kundry. Pierre Boulez stand am Pult des Orchesters der Bayreuther Festspiele.

Wieland Wagner hatte ihn, wie auch Karl Böhm, noch engagiert. Aber unter Wolfgang Wagners Verantwortung zeichneten sich in Bayreuths Dirigentenriege zwischen 1966 und 1976 schwerwiegende Veränderungen ab. Karl Böhm, Rudolf Kempe und Pierre Boulez blieben fortan den Festspielen fern, Erich Leinsdorf trat nur eine Saison in Bayreuth auf, viele große Dirigenten der Zeit wurden nicht nach Bayreuth geladen oder verweigerten sich ihm. Es kam eine Phase eher solider Bayreuther Alltagskost mit Kapellmeistern wie Alberto Erede, Silvio Varviso, Heinrich Hollreiser und Horst Stein.

Bayreuth war – trotz des klangvollen Namens, der das Publikum aus aller Welt nach wie vor anzog - nicht mehr die Nummer Eins des Wagnertheaters. Das änderte sich zur Hundertjahfeier 1976, als Wolfgang Wagner, dem cleveren Routinier und kommerziell erfolgreichen Bayreuther Firmenchef ein Clou gelungen war. Er hatte ein "Ring"-Produktionsteam verpflichtet, das eine der sensationellsten Inszenierungen Bayreuths und des Wagnertheaters überhaupt auf die Bühne brachte. Das französische Team hatte einen "Ring" zustandegebracht, der trotz heftigster anfänglicher Proteste des Publikums innerhalb kürzester Zeit zum "Jahrhundert-Ring" apostrophiert wurde. Was Wunder: Patrice Chéreau, ein junger französischer Schauspielregisseur, sein Bühnenbildner Richard Peduzzi und sein Kostümbildner Jacques Schmidt produzierten einen so vielschichtigen, politisch brisanten und sinnlichen "Ring", wie ihn Bayreuth, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Und der Komponist und Dirigent der Avantgarde, der schon Wielands "Parsifal" entpathetisierte, Pierre Boulez, der erneut für Bayreuth gewonnen werden konnte, sorgte musikalisch für eine unweihevolle Verschlankung dieses szenischen "Ring"-Ereignisses.

Patrice Chéreau, der Regisseur des Bayreuther "Jahrhundert-Rings" beteuerte zwar mehrfach, er habe seiner Inszenierung keine Zentralidee zugrundegelegt, aber die an George Bernhard Shaw und Karl Marx orientierte Gesellschaftskritik seines Ring-Konzeptes war unübersehbar. In plastischen, einprägsamen Bildern und in prächtigen Kostümen des neunzehnten Jahrhunderts konfrontierte Chéreau, gemeinsam mit seinem phantasievollen Ausstattungsteam, Frühkapitalismus der Gründerzeit mit modernem Prä-Faschismus, antiken Mythos mit romantischem Märchen, subtiles Psychodrama mit packendem Polittheater. Die Inszenierung vereinte burlesken Spielwitz und hochgespannte, konzentrierte Personenführung, Poesie und Aufklärung. Die Dekorationen haben geradezu Theatergeschichte gemacht: der riesige Staudamm, an dem wollüstige Dirnen das Rheingold bewachten ebenso wie der dem Böcklinschen Gemälde der Toteninsel nachempfundene Brünnhildenfelsen. Die Renaissance-Palazzo- und Gründerzeitfassaden, die Naturstimmung der Siegmund und Sieglinde-Szene in der "Walküre", der pyrotechnisch imposante Feuerzauber, aber auch der Bilderbuch-Kitsch-Drachen im "Siegfried" und die Dampfmaschinenwelt der Schmiede Mimes, den Heinz Zednik zu einer herausragenden singschauspielerischen Charakterstudie gestaltete.

Der "Ring" Patrice Chéreaus und seines Teams, der aus heutiger Sicht einer der größten Erfolge Bayreuths überhaupt war, wurde bei der Premiere keineswegs freundlich aufgenommen. Im Gegenteil: die wütenden Proteste des Publikums überschritten alles bisher Dagewesene. Die konservativen Wagnerianer bildeten sogar einen "Aktionskreis für das Werk Richard Wagners", um gegen diese Inszenierung anzukämpfen, erfolglos allerdings. Wolfgang Wagner verteidigte die Produktion gegen alle Widerstände. Die Zeit gab ihm recht. 1980, bei der letzten Aufführung des Chéreau-"Rings", hatte das internationale Publikum längst begriffen, daß es einer theatergeschichtlichen Sternstunde beigewohnt hatte. Es spendete den Beteiligten auf und unter der Bühne zum Abschied neunzigminütige Ovationen. Nach Chéreau, so war man sich einig, war nichts mehr wie vorher im Wagnertheater.

Aber auch ansonsten hatte sich einiges verändert, denn 1976 ließ sich Wolfgang Wagner nach 33 Jahren von seiner Frau scheiden, er heiratete Gudrun Mack, eine seiner Sekretärinnen, und feuerte Eva Wagner, seine Tochter, die er nach Wielands Tod als Mitarbeiterin ins Bayreuther Festspielunternehmen geholt hatte. Seinem aufmüpfigen Sohn Gottfried erteilte er Hausverbot. Seither haben sich die zerstrittenen Familienverhältnisse des Wagnerclans noch mehr verhärtet als sie ohnehin schon waren.

Das Bayreuth Wolfgang Wagners wurde seit 1976 durch Famielienangehörige der Wagnersippe zunehmend attackiert. Es gehört seit 1976 geradezu zum alljährlichen Ritual der Festspieleröffnung, daß sich mindestens eines der von Wolfgang ausgegrenzten oder verstoßenen Familienmitglieder provokativ oder skandalös, jedenfalls medienwirksam zu Wort meldete. Aber auch von anderer Seite wurde Wolfgang Wagner attackiert: eine Anzahl von Publikationen zur Hundertjahrfeier Bayreuths erschien mit eindeutiger Stoßrichtung gegen die politisch bedenkliche Rolle Bayreuths im Prozess der politischen Geschichte Deutschlands. Michael Karbaum, der eine gewissenhafte, halboffizielle Studie zu den ersten hundert Jahren Bayreuther Festspiele veröffentlichte, hatte als erster den Finger an die Wunden gelegt und auf die enge Verstrickung Bayreuths in die rechte Bewegung, vor allem in die nationalsozialistische Politik offengelegt und dokumentiert. Aber auch Walter Scheel, der damalige deutsche Bundespräsident und Ehrengast der Hundertjahrfeier Bayreuths, hatte für Verstimmung gesorgt, als er in seiner Festrede sagte:

"Bayreuths Geschichte ist ein Teil deutscher Geschichte. Seine Irrtümer sind die Irrtümer unserer Nation gewesen. Und in diesem Sinn ist Bayreuth eine nationale Institution geworden, in der wir uns selbst erkennen können. Die dunklen Kapitel deutscher Geschichte und Bayreuther Geschichte können wir nicht einfach wegwischen."

Eine Feststellung, die den affirmativen Rahmen der Festveranstaltung sprengte und für empfindliche Irritationen sorgte. Auch die filmische Veröffentlichung eines fünfstündigen Interviews, das Winifred Wagner dem Filmemacher Hans Jürgen Syberberg gab, eskalierte zu einem Skandal, denn Wolfgang Wagners Mutter hatte sich darin in keiner Weise von Adolf Hitler und der Wagnervereinnahmung des Dritten Reiches distanziert, im Gegenteil, sie bekannte sich ungebrochen zur Freundschaft zu Hitler und ignorierte alle Greuel der NS-Zeit. Wenn Hitler heute vor ihrer Tür stände, so sagte sie sinngemäß, würde sie ihn genauso herzlich wie damals Willkommen heißen.

Der obsessivste Antiwagnerianer der Siebzigerjahre war zweifellos der Münchner Germanist Hartmut Zelinsky, der mit seinem Buch "Richard Wagner – Ein deutsches Thema" in ein Wespennest stach und eine Flut von weiteren eigenen und von Folgeschriften anderer Autoren nach sich zog. Auch er dokumentierte die fatale politische Wirkungsgeschichte Richard Wagners bis ins Dritte Reich und beeinflußte damit nicht nur die deutsche, sondern auch die internationale Wagnerforschung.

Allerdings gab Hartmut Zelinsky den Anstoß zu einem gravierenden Kurswechsel in der Auseinandersetzung mit Wagner. Dabei hat er jedoch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, indem er Hitler offenbar mehr glaubte als Wagner und ein willkürlich zusammengesuchtes antisemitisches, rassistisches Vernichtungsdenken als Werkidee aller Musikdramen Wagners konstruierte. Es dauerte einige Jahre, bis die ebenfalls 1976 erstmals veröffentlichten Tagebücher Cosima Wagners, also Wagners zweiter Ehefrau, als wichtigste Quelle der neueren Wagnerforschung erkannt und als Korrektiv gegen Zelinskys Thesen zurate gezogen wurden. Mittlerweile hat die überwiegende Wagnerforschung die Wagnerattacken Zelinskys und seiner Schüler bzw. Adepten weitgehend widerlegt. Jeder Versuch, Wagner einseitig zu erklären, schlägt fehl. Er war alles gleichzeitig: jungdeutscher Fürsprecher einer befreiten Sinnlichkeit und Erotik auf der einen, mystischer Ekstatiker keuscher Gralsritter auf der anderen Seite, Zerstörer bürgerlicher Institutionen und doch ihr repräsentativer Gourmet, Gesinnungsgenosse des Anarchisten Bakunin und Seelenfreund des verträumten "Märchen"-Königs Ludwigs des Zweiten von Bayern, Bürgerschreck und Luxusgeschöpf, Verächter des Eigentums an Palästen und stolzer Hausherr zu Wahnfried, europäischer Kosmopolit und Nationalpatriot, Hanswurst-Kasperl und Faust. Beide Figuren liebte Wagner zeitlebens, beide wollte er musikalisch verewigen. Zur Komposition einer Kasperl-Musik ist es leider nicht gekommen, wohl aber zur Komposition einer Faustouvertüre und zweier Mephistophelischen Lieder, frei nach Goethe. Unter anderem des Flohliedes.