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"Kinder! macht Neues!"

Dieter David Scholz7. November 2001

125 Jahre Bayreuther Festspiele - 50 Jahre Neubayreuth

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Folge 9: "Entrümpelung"
Neue Konzepte, Ausnahmedirigenten und junge Sänger am Grünen Hügel

Wieland und Wolfgang Wagner hatten 1951 die Bayreuther Festspiele - die kriegsbedingt - sechs Jahre lang unterbrochen waren, erfolgreich wiedereröffnet. Aber es war kein nahtloses Anknüpfen an die Tradition der Vorkriegs-Wagnerpflege und schon gar keine Fortsetzung der politisierten Kriegsfestspiele, die sich von dem, was Richard Wagner einst in Bayreuth vorschwebte, weit entfernt hatten.

Nachdem Wieland Wagner 1951 mit Neuinszenierungen des "Parsifal" und des "Rings" szenisches Neuland betrat und in seinen eigenen Bühnenbildentwürfen zum ersten mal abstrakte Bilder mit symbolhaften Formanspielungen und ausgeprägter Lichtregie auf die große Bühne des Festspielhauses gestellt hatte, setzte er diesen Weg der Abstrahierung mit seiner ersten "Tristan"-Neuinszenierung 1952 weiter fort, die der junge Herbert von Karajan dirigierte. Sie hörten einen Ausschnitt aus dem Originalmitschnitt.
Im "Tristan" hatte Wieland Wagner noch radikaler alles überflüssige Beiwerk eliminiert. Weder Kulissen noch realistische Auf-bauten, nichts Historisches, schon gar nichts Teutonisches wurde mehr geduldet auf dem Grünen Hügel. Das Wort von der "Entrümpelung" machte die Runde. Er steckte die Sänger in vereinfachte, aber ausdrucksvolle Kostüme und konzentrierte die Bühnenaktion auf spannungsvoll bedeutsame Gestik und Mimik. Die Bühne wurde zum "geistigen Raum". Am wohl extremsten verwirklichte er diese Idee in seiner optisch streng geometrischen "Tannhäuser"-Inszenierung, die erstmals 1954 auf die Bühne kam.

Während Wolfgang Wagner im Vorfeld der Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele mit dem Motorrad durch Deutschland fuhr und Mäzene, Sponsoren und Geldgeber für einen Neuanfang suchte, hatte sein Bruder Wieland in Ruhe die Dramaturgie eines konzeptionellen und szenischen Neuanfangs des Wagnertheaters vorbereitet. Er hatte mit seiner Familie das Kriegsende am Bodensee verbracht, wo er sich auf all das stürzte, was im Dritten Reich verboten war: auf die Tiefenpsychologie Siegmund Freuds, die Symbolforschung der C.G. Jung-Schule, auf Mythenforschung und auf die - freilich im internationalen Rahmen schon gar nicht mehr so avantgardistische - Moderne der Malerei, etwa Pablo Picassos, Piet Mondrians und Henry Moores. Wieland war - gemeinsam mit seinem Bruder Wolfgang - fest entschlosen zu einer radikalen Neudeutung Wagners. Er wagte dramaturgisch einen Sprung ins kalte Wasser. Aber auch Dirigenten, die bisher nicht in Bayreuth zu erleben waren, wurden geholt: Herbert von Karajan, Wolfgang Sawallisch, Lovro von Matciv, Lorin Maazel, Thomas Schippers, Joseph Keilberth, um nur einige zu nennen und ungehörte, junge Sänger wurden verpflichtet. Ein Sängerteam, das seinesgleichen suchte und in Bayreuth nicht wieder erreicht wurde: George London, Hans Hotter, Martha Mödl, Astrid Varnay, Gustav Neidlinger, Josef Greindl, Wolfgang Windgassen, Marti Talvela und viele andere mehr, die Crème de la crème des damaligen Wagnergesangs.
Die Brüder hatten sich übrigens abgesprochen, daß Wolfgang zunächst für das Organisatorische, Wieland fürs Künstlerische, sprich für die Regie und Ausstattung verantwortlich sein solle. Er hatte sich vorgenommen, nach und nach, im Schnitt alle zwei Jahre, ein weiteres Werk seines Großvaters neuzuinszenieren, danach sollte sein Bruder einen kompletten Durchgang des Wagnerschen Werks inszenieren. Auch er hatte ja an der Berliner Staatsoper das Handwerk der Regie gründlich gelernt. Wieland, der als Maler ausgebildet und bis 1945 im sächsischen Altenburg als Regisseur engagiert war, ging es um nichts weniger als einen neuen Interpretationsansatz des Wagner-schen Œuvres. Wieland in einem Interview:

"Ich suche eine musikalische Abstraktion . Dass ich Bayreuth als Werkstatt betrachte, in der unermüdlich gearbeitet wird, hat den Grundcharakter Bayreuths verändert. Ich habe mich entschieden, dass wir grundsätzlich so frei wie möglich ar-beiten müssen. Die Vorschriften Richard Wagners, die sämtliche alten Wagnerianer auswendig können, sind für das Theater seiner Zeit und nicht für das Theater unserer Zeit. Die Vorschriften sind für die Kulissenbühne, sind für das Gaslicht und für die gemalte Hängedekoration. Wir haben inzwischen die Lichtorgel, wir sind andere Menschen, und wir haben Kriege durchgemacht!"

In einem zur Eröffnung der "Neubayreuther Festspiele" heraus-gegebenen Festspielbuch ließ Wieland einen geradezu programmatischen Aufsatz abdrucken, der den be-zeich-nenden Titel trug: "Überlieferung und Neugestaltung". Darin begründete und rechtfertigte er seinen Bruch mit der Tradition und seinen Aufbruch in ein szenisches und musikalisches Neuland. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die These, dass der leere, "ausgeleuchtete Raum" an die Stelle des "beleuchteten Bildes" zu treten habe.

"Wir haben im Jahr 1951 begonnen, einen für die Gegenwart tragfähigen Stil für das Werk Richard Wagners zu finden und wir glauben, dass wir soweit sind, sagen zu können, dass es gelungen ist, nicht nur einen neuen Stil der Wiedergabe zu finden, sondern, was ich für viel wichtiger halte, ein Ensemble aus Sängern aus der ganzen Welt zu versammeln, die geeignet sind, diesen neuen Stil als singende Darsteller im wahrsten Sinne des Wortes völlig und restlos zu erfüllen."

Mit den "Meistersingern", die Wieland Wagner 1956 herausbrachte, hatte er die letzte Bastion der alten Wagnerianer zerstört, indem er das Nürnberg Hans Sachsens vollends eliminierte zugunsten einer Shakespearschen Assoziation ohne exakt zu definierenden zeitlichräumlichen Ort. Der Protest des Publikums und der Presse war groß. "Meistersinger ohne Nürnberg" rief man ihm entgegen. Die Inszenierung wurde ein Skandal. Doch Skandale - künstlerische wie familiäre - sollten künftig zum Nachkriegs-Bayreuth gehören.
Zu der stilbildenden Garde der Sänger im Nachkriegs-Bay-reuth gehörte von Anfang an neben Astrid Varnay Martha Mödl, sie war im "Parsifal" die Kundry der ersten Stunde. Aber Martha Mödl war auch als erste Nachkriegs-Isolde eine Aus-nahmesängerin von singulärer Darstellungskraft. Mehr als 30 Jahre nach Wielands Tod, 1997, beschreibt sie Wieland Wagner folgendermaßen:

"Ich hab von Wieland vor allem gelernt, dass man etwas darstellen kann, ohne irgendein Brimborium um sich herum, dass nur eine einzige Haltung eine ganze Figur ausdrücken kann! Das habe ich erstens mal wirklich von ihm gelernt, dass ich nie über das Ziel geschossen habe."

Neben Martha Mödl gehörte zu den großen Entdeckungen Nachkriegsbayreuths die damals 20-jährige Sängerin Anja Silja. Vielleicht Wielands größte Entdeckung einer gleichermaßen stimmlich wie darstellerisch außerordentlichen Begabung. Die Verkörperung eines Ideals von mädchenhafter Erscheinung und durchschlagender, dramatischer Stimme. Wielands Begeisterung für diese junge Sängerdarstellerin ließ aus gemeinsamer Kunstausübung Liebe werden. Anja Silja wurde auch privat seine Weggefährtin bis zu seinem Tode 1966.

"Das ist eigentlich mein Leben gewesen, und das war unglücklicherweise schon vorbei, als ich erst 26 Jahre alt war. Das ist, wenn man so will, die Tragödie meines Lebens. Damit muss man fertig werden, das ist halt so! Wir brauchten uns beide. Er hat in mir einfach das Ideal gesehen, das wohl auch Richard Wagner sich vorgestellt hatte, eben dieses junge Mädchen für diese Rollen. Das war ja seitdem - weder vorher noch nachher - nie wieder erreicht, dass ein Mädchen eine Isolde mit Neunzehn, eine Senta mit Zwanzig singt.

Den berühmten, in blausilbernen Dekorationen inszenierten "Lohengrin" aus dem Jahre 1958, in dem Anja Silja die Elsa und Astrid Varnay die Ortrud sang, hatte Wieland ganz als Mysterienspiel angelegt. Man warf ihm nicht nur bei dieser Inszenierung vor, im Grunde nur kostümierte Oratorien zu inszenieren. Immer wieder hatte Wieland das Wagner-publikum schockiert. Aber er hatte einen eigenen Stil geschaffen und mit ihm Maßstäbe der Wagner-ins-zenierung gesetzt, die von Bayreuth auf den Rest der Bühnen-Welt ausstrahlten.
Als Wieland Wagner 1966 - kaum 50 Jahre alt - starb und seinem Bruder Wolfgang das alleinige Erbe der Fest-spiel-leitung zufiel, war am Sängerhimmel Bayreuths ein weiterer Stern aufgegangen, die Schwedin Birgit Nilsson. In seiner letzten und vielleicht in der symbolischsten seiner Inszenierungen, "Tristan" von 1962 mit seinem radikal abstrahierten Bühnenbild, in dem phallische Monolithe in den Himmel ragten und den Eros des Werks beschworen, glänzte die Nilsson in der Partie der Isolde. Unter Leitung von Karl Böhm hat die Schwedin Birgit Nilsson diesen "Tristan" als vielleicht expressivste musikalische Ikone einer zuende gegangenen Ära für die Nachwelt konserviert.