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Russland: Vergangenheitsbewältigung nicht in Sicht

9. August 2007

In Russland spricht man schlicht von „37": Vor siebzig Jahren begann unter Stalin der „große Terror“ mit Verhaftungen, Massenerschießungen, Deportationen. Heute wird die stalinistische Vergangenheit eher verharmlost.

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Tausende landeten in sowjetischen Straflagern wie WorkutaBild: picture-alliance/dpa

Die Geschichte Russlands und der Sowjetunion ist für Wladimir Putin vor allem eine Geschichte von Erfolgen und damit Grund genug für einen neuen patriotischen Stolz. Es habe zweifellos "problematische Seiten" in der sowjetischen Vergangenheit gegeben, unterstrich der Präsident kürzlich, aber andere Länder hätten schließlich eine noch dunklere Geschichte. Putin erwähnte in diesem Zusammenhang den deutschen Nationalsozialismus, den Abwurf der amerikanischen Atombomben auf Japan und den Vietnamkrieg.

Leiche im Keller

Im heutigen Russland ist die stalinistische Vergangenheit ein weißer Fleck. Es fehlen Geschichtsbücher, es gibt keine öffentliche Debatte und die Erinnerung im kollektiven Gedächtnis schwindet. Trotzdem wirkt das Erbe des "Großen Terrors" nach. Die Menschenrechtsorganisation "Memorial" spricht von einer "Leiche im Keller" der russischen Gesellschaft. Jan Racinskij vom "Memorial"-Archiv verweist auf die Opferzahlen: „Die Gesamtzahl der Opfer der Repressionen beträgt mehr als eine Million Erschossene, etwa vier Millionen Lagerhäftlinge und mehr als sechs Millionen Deportierte."

Gedenken in der Provinz

Die Menschenrechtsorganisation ist aus einer Bürgerinitiative entstanden. Sie sammelt und archiviert Dokumente, Fotos und Erinnerungen. Sie verfügt über Büros in ganz Russland und in anderen europäischen Staaten - zum Beispiel in Polen, der Ukraine und auch in Deutschland. "Memorial" macht immer wieder mit Geschichtsprojekten von sich reden: Derzeit betreut die Hilfsorganisation eine biographische Untersuchung der "Kinder von 37" - der zweiten traumatisierten Generation also. Fernab von der Metropole Moskau habe "Memorial" auch dazu beigetragen, eine Erinnerungskultur zu entwickeln, berichtet Alexander Daniel: „In den Regionen erinnert man sich durchaus an den 'Großen Terror'. An vielen Plätzen stehen Denkmäler für die Opfer der Verfolgung, auch weit weg von den regionalen Zentren.“

So gibt es beispielsweise in Perm ein Museum. Es erinnert an das Lagersystem "Gulag", Synonym für ein umfassendes Repressionssystem in der ehemaligen Sowjetunion, bestehend aus Zwangsarbeitslagern, Straflagern, Gefängnissen und Verbannungsorten.

Keine historische Aufarbeitung

"Memorial" fordert nun gleichwohl in einem umfangreichen Thesenpapier ein nationales Museum zur Geschichte des Staatsterrors, ein staatliches Denkmal für die Ermordeten, Gedenktafeln an Gebäuden, Erinnerungsbücher, sowie die historische und juristische Aufarbeitung der Stalin-Zeit - im gesamten postsowjetischen Raum. Am Erbe des "Großen Terrors" leide die russische Gesellschaft noch heute, meint "Memorial". Man habe sich an die staatlich gelenkte Rechtsprechung ebenso gewöhnt wie an die Beschneidung demokratischer Rechte und an die reflexhafte Ablehnung unabhängiger gesellschaftlicher Aktivitäten. Nachsicht gegenüber Lügen, Konformismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit sei auch Ergebnis einer unbewältigten Vergangenheit, schreiben die Experten von "Memorial". Und der russische Philosoph Michail Ryklin sieht dies ähnlich: „Wir können beobachten, dass die autoritären Züge in der russischen Politik beständig anwachsen. Es werden Gesetze praktisch unter Ausschluss von Wahlen beschlossen. Und es sieht so aus, als würde man alle nur möglichen Formen des Protestes unterdrücken wollen. Die Vergangenheit ist ziemlich wichtig für die aktuelle Politik Russlands. Sie wirkt wie ein positiver Faktor. Sie soll uns mit Stolz erfüllen."

Stalin als umstrittene Figur

Doch während die Bürgerrechtler um "Memorial" betonen, "Gulag" und 1937 seien ebensolche Symbole des 20. Jahrhunderts wie Auschwitz und Hiroshima, ist ein Großteil der russischen Bevölkerung anderer Auffassung: Eine Umfrage des Levada-Zentrums ergab, dass nur fünf Prozent der Befragten den Diktator Stalin hassen, 18 Prozent immerhin empfinden Unbehagen, 15 Prozent Angst, wenn sie an die stalinistische Vergangenheit denken. 36 Prozent aber sprachen von dem Diktator mit dem Ausdruck der Hochachtung, der Verehrung und des Respekts. Denn Stalin ist im Bewusstsein vieler Russen noch immer vor allem eines: der siegreiche Feldherr, der Nazi-Deutschland geschlagen hat.

Cornelia Rabitz

DW-RADIO/Russisch, 8.8.2007, Fokus Ost-Südost