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Zettelwirtschaft

Sabine Oelze17. Juli 2007

Ordnung ist das halbe Leben. Das galt auch für Gelehrte und Schriftsteller aller Jahrhunderte. Für sie war der Zettelkasten lange Zeit ein ökonomisches und produktives zweites Gedächtnis.

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Karteikasten
Ist Ordnung das halbe Leben?Bild: Bilderbox

"Wenn ich ein Buch anlege, dann sind schon die Zettelkästen da, ich habe dann schon 60 bis 80 Prozent zusammen und kann sagen, wieviele Seiten der Text bekommt." (Arno Schmidt)

"Meine Produktivität ist im Wesentlichen aus dem Zettelkasten-System zu erklären. Der Zettelkasten kostet mich mehr Mühe als das Bücherschreiben." (Niklas Luhmann)

Wer das, was er in seinem Leben gelesen oder gedacht hat, jemals wieder gebrauchen will, kann es nicht einfach planlos anhäufen. Die Flut des Wissens können selbst große Denker nicht bewältigen. Kein Wunder, dass Schriftsteller wie Arno Schmidt oder Soziologen wie Niklas Luhmann ihre Erinnerungen in einem zweiten Gedächtnis speichern wollten.

Am Anfang stand das Exzerptenbuch

Sie sammelten alles, was ihnen wichtig erschien, in zum Teil immensen Zettelkästen mit Tausenden von losen Karteikarten, die über Querverweise miteinander in Dialog treten konnten. Das System entfaltete ein so starkes Eigenleben, dass es für die Autoren zur Textmaschine wurde.

Schon im 16. Jahrhundert versuchten Forscher ihr Wissen von der Welt zu ordnen. Zunächst begannen sie ihre Notizen in so genannten Exzerptenbüchern zu sammeln. Das war ihnen aber noch nicht übersichtlich genug. Deshalb entwickelten sie ein Behältnis, in das sie ihre Karteikarten alphabetisch einsortieren konnten. So ist der Zettelkasten, wie wir ihn heute kennen, entstanden.

Esel und Schwindler

Kulturkritiker Karl Kraus (1874-1936)
Kulturkritiker Karl Kraus (1874-1936)Bild: pa / Imagno

Aus Zettelsammlungen Bücher schreiben. Ein Konzept, über das der österreichische Kulturkritiker Karl Kraus Ende des 19. Jahrhunderts nur den Kopf schütteln konnte. Ein Genie brauchte seiner Meinung nach keine Hilfsmittel, um seine Ideen zu Papier zu bringen sondern Inspiration, den Kuss der Muse. Deshalb verkündete er voller Gräuel über seine Kollegen: ”Wer schreibt, um Bildung zu zeigen, muß Gedächtnis haben; dann ist er bloß ein Esel. Wenn er die Fachwissenschaft oder den Zettelkasten benützt, ist er auch ein Schwindler.”

Faule Schwindler waren die Autoren und Wissenschaftler ganz bestimmt nicht, die im 20. Jahrhundert dem Zettelkasten zu einer Renaissance verhalfen. Mit Hilfe von Karteikarten und Querverweisen experimentieren sie mit neuen Erzählformen. Der Zettelkasten half ihnen dabei, ausgeklügelte Verfahren der Text-Montage zu entwickeln.

Arno Schmidt (1914-1979) mit seinem Zettelkasten
Arno Schmidt (1914-1979) mit seinem ZettelkastenBild: picture-alliance/dpa

Verzettelung als Inspirationsquelle

Ein Meister der Verzettelungskunst war Arno Schmidt, einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegszeit. In einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide lebte der verschrobene Exzentriker. Dort arbeitete er mit dem wohl legendärsten Zettelkasten der Literaturgeschichte. Zum ersten Mal kam der für seinen Text "Seelandschaft mit Pocahontas“ zum Einsatz. Er beschrieb sage und schreibe 750 Zettel. Die Gesprächsnotizen, Zeitungsexzerpte, Zitate und spontanen Gedanken montierte er dann zu einer Erzählung zusammen.

1970 bringt Schmidt das "Verzetteln“ zur Perfektion. Das Ergebnis heißt: "Zettels Traum“. Der ist für viele Germanistik-Studenten allerdings ein Alptraum, denn es handelt sich um eines der unlesbarsten Bücher der Literaturgeschichte. Drei parallele Textstränge, montiert aus Zitaten und Notizen, ziehen sich über 1330 Seiten. Sie erzählen aus verschiedenen Perspektiven einen Tag im Leben eines Schriftstellers. Aber nicht nur das literarische Verfahren ist eine echte Herausforderung. Der Zettelstapel konnte erstmal gar nicht als Buch gedruckt werden. Die Erstausgabe erschien deshalb als 17 Pfund schweres Faksimile in Atlasformat.

Friederike Mayröcker
Friederike Mayröcker (Archivbild)Bild: AP

Zettel gegen das Chaos und das Vergessen

Auch die bedeutende Lyrikern Friederike Mayröcker hätte ohne ihren Zettelkasten nicht dichten können. Die Wienerin ist ein wahrer Messi. In ihrem Arbeitszimmer herrscht kreatives Chaos. Überall stapeln sich Schuhkartons, Körbe, Manuskripte und Bücher. Friederike Mayröcker braucht den Zettelkasten aber nicht wie Arno Schmidt als Textmaschine, sondern um sich Übersicht über ihr gesammeltes Wissen zu verschaffen. Der Zettelkasten ist für Friederieke Mayröcker Inspirationsquelle, ein Fundus, in dem sie Ideen für ihre Texte sammelte.

Auch der ehemalige Dorfschullehrer und Schriftsteller Walter Kempowski hat das Collage-Verfahren zu seinem Markenzeichen gemacht. In seinem 3000seitigen Roman ”Echolot” aus dem Jahr 1994 verarbeitete Kempowski Erinnerungen aus der NS-Zeit. Herausgekommen ist ein kollektives Tagebuch. Das Besondere seines Verfahrens bestand darin, Notizen fremder Menschen zu einem neuen Text zusammen zu collagieren. Zum ersten Mal wurde so die breite Öffentlichkeit miteinbezogen. Dazu hatte er in der Wochenzeitung "Die Zeit" inseriert, um unveröffentlichte Biografien, Tagebücher oder Fotos zu sammeln. Die Einsendungen hat er miteinander verschränkt zu einem großen Erinnerungsbuch über die deutsche Vergangenheit.

Computer mit CD-ROM
CD-ROM ersetzt die ZettelwirtschaftBild: Bilderbox

Eines der legendärsten Zettelarchive befindet sich in Oerlinghausen bei Bielefeld. Der Besitzer ist kein Schriftsteller, sondern einer der modernsten Gesellschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Der 1998 verstorbene Soziologe Niklas Luhmann notierte fast 50 Jahre lang wichtige Gedanken und Assoziationen auf kleine Notizzettel. Luhmanns Zettelkasten ist ein spinnenförmiges Verweis-System mit nummerierten und unternummerierten Exzerpten aus der Lektüre von Philosophen wie Husserl, Descartes, Kant, buddhistischen Schriften oder klassischer französischer Literatur.

Poesie in einer komplexen Umwelt

Der Zettelkasten mit Karteikarten aus Papier verkommt in den 1990er Jahren mehr und mehr zum Auslaufmodell. Der Computer übernimmt die Speicherung und Verwaltung des Wissens. Schnelligkeit und Platz sparen lautet das neue Credo. Per Mausklick geht es von Querverweis zu Querverweis.

Ohne Computer hätte auch ein Schriftsteller wie Ulrich Holbein aus Kassel seinen Zitatenschatz nicht verwalten können. Sieben Jahre lang hat er sich für seinen Roman “Isis entschleiert” durch 3000 Autoren geblättert, auf der Suche nach Textpassagen rund um das Thema Entschleierung. Herausgekommen ist ein Buch, das komplett aus Sätzen anderer Autoren besteht. Für Holbein eine Parodie auf das wissenschaftliche Arbeiten und ein Versuch, den Mythos der Schriftstellerei zu entschleiern. Denn hinter dem Schreiben steckt nicht nur Inspiration, sondern auch harte Arbeit und Textkenntnis. Schließlich ist jeder Roman ohne seine Vorläufer nicht denkbar.

Literatur aus Literatur am Computer zusammen komponiert. 380 Seiten lang reiht sich ein abgekupfertes Zitat an das nächste. Der Leser ist gefragt. Mit seinem Assoziationsvermögen und Spieltrieb wird er zum Co-Autor des Textes. Je größer die Lücke zwischen den Zitatfetzen ist, desto mehr eigenen Gehirn-Kitt muss er einfügen.

Auch wenn im 21. Jahrhundert der Computer den Zettelkasten abgelöst hat - das elektronische Gedächtnis kann die künstlerische Leistung des Autors nicht ersetzen. Allein seine Kreativität kann die Welt der Notizen, Paraphrasen und Zitate in eine unendliche Bibliothek verwandeln. Aber selbst als Hyperlink kann die Zettelwirtschaft weiter dabei helfen, der immer komplexer werdenden Umwelt etwas Poetisches abzugewinnen. Ob sich der Leser allerdings auch weiterhin auf das intellektuelle Verwirrspiel einlassen will, das steht auf einem anderen Zettel.