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"Dies ist eine deutsche Geschichte"

Jennifer Abramsohn / (fb)10. Juni 2006

Der US-Historiker Timothy Naftali fordert in einem Interview mit DW-WORLD.DE, die Bundesregierung dazu zu drängen, mehr Informationen über die Rolle ehemaliger Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg zu veröffentlichen.

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Adolf Eichmann, hier vor dem Jerusalemer Bezirksgericht, wurde 1962 hingerichtetBild: AP

Kürzlich erst hatte die CIA 27.000 Seiten ihres Archivs aus der Nachkriegszeit freigeben müssen. Dabei wurde bekannt, dass der US-Geheimdienst ehemalige Nazis gedeckt und sie im Kalten Krieg als Spione gegen die Sowjetunion eingesetzt hatte. Timothy Naftali ist einer von vier Wissenschaftlern, der von der US-Regierung mit der Aufklärung und Auswertung von Verbrechen im Dritten Reich und den Kriegsverbrechen der Japaner im Zweiten Weltkrieg beauftragt worden war.

In einer Pressekonferenz erklärte er, dass die CIA den Leiter des für die Deportation der Juden verantwortlichen Reichssicherheitshauptamtes Adolf Eichmann in seinem Exil in Argentinien gedeckt hatte. Aus Angst vor der Aufdeckung des Staatssekretärs Konrad Adenauers, Hans Globke, hatte die damalige Bundesregierung diese Deckung unterstützt. Globke hatte einen Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen verfasst und war maßgeblich an den Deportationen von Juden nach Auschwitz beteiligt.

DW-WORLD.DE: Was waren die großen Überraschungen, die Sie nach der Veröffentlichung der CIA-Dokumente entdeckt haben?

Timothy Naftali
US-Historiker Timothy Naftali fordert die Deutsche Bundesregierung zu mehr Offenheit aufBild: Naftali

Timothy Naftali: Bereits 2004 haben wir bei der Analyse anderer, zuvor veröffentlichter Dokumente, das Ausmaß erkannt, in dem ehemalige Nazis mit krimineller Vergangenheit von der Organisation Gehlen (dem ersten, von amerikanischen Besatzungsbehörden in der amerikanischen Zone aus deutschem Personal gebildeten Nachrichtendienst) angeworben worden waren. Dass die US-Regierung in so großem Ausmaß ihre Aufsichtspflicht über die Organisation Gehlen vernachlässigt hatte, war eine Überraschung für mich. In diesem aktuellen Fall fand ich die Informationen über Eichmann besonders interessant, aber nicht wirklich überraschend, da ich wusste, dass es nicht die Aufgabe der US-Regierung war, Eichmann zu verfolgen.

War es offizielle US-Politik, die Verfolgung von Nationalsozialisten Deutschland zu überlassen?

Nach dem Ende der Entnazifizierungsprozesse war das tatsächlich die Politik der USA. Sie war Teil der Anerkennung der deutschen Souveränität.

Es scheint klar zu sein, dass der CIA und Westdeutschland lange Zeit versucht haben, Adenauers Sicherheitschef Hans Globke zu schützen. War es bekannt, dass er im Nazi-Regime eine bedeutende Rolle gespielt hatte?

Konrad Adenauer
Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer versuchte, seinen Staatssekretär Hans Globke zu schützenBild: AP

Ich kann die Beunruhigung nicht erklären, die in der Bundesregierung aufkam, vor allem bei westdeutschen Geheimdiensten, nachdem Eichmann gefasst worden war. Schließlich war Globke zu diesem Zeitpunkt in eine öffentliche Auseinandersetzung mit einem Mann namens Max Merten verwickelt, der behauptete, Globke sei an der "Endlösung der Judenfrage" im griechischen Thessaloniki beteiligt gewesen. Was hätte Eichmann einem solchen Vorwurf hinzufügen können, das Globkes Situation verändert hätte? Ich kann die Beunruhigung nur so wiedergeben, wie sie aus den Dokumenten ersichtlich wird.

Es ist sehr schwierig, internationale Geschichte nur von einer Seite zu beleuchten. Es ist eine wahre Schande, dass die Bundesregierung sich weigert, ihre Informationen zu diesem Thema zu veröffentlichen. Ich verstehe nicht, warum Berlin die BND-Akten zum Fall Eichmann nicht freigeben will. Warum nicht? Ich wäre sehr neugierig, welche Informationen die westdeutsche Regierung über Eichmann gehabt hat und wie die Entscheidung, was mit Eichmann geschehen sollte ausgesehen hat, die in den höchsten Kreisen zwischen Adenauer und Globke stattgefunden hat. Das ist die große offene Frage.

Ist zu erwarten, dass noch mehr Informationen von anderen europäischen Großmächten des Zweiten Weltkriegs ans Tageslicht kommen?

Das liegt nicht an uns. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Aufzeichnungen der US-Regierung freigegeben werden, nicht die anderer Staaten. Ich denke, dass die deutschen Medien, deutsche Forscher und das deutsche Volk dies fordern sollten. Ich finde es interessant, dass es in dem Moment, in dem die US-Regierung Informationen über Eichmann herausgibt, eine Menge Unruhe in Deutschland entsteht. Aber es gibt keine Nachuntersuchungen der deutschen Regierung. Nach alledem sollten deutsche Forscher ihre Regierung fragen: "Warum könnt Ihr nicht dasselbe machen? Warum könnt Ihr nicht so offen sein, wie die US-Regierung? Was wollt Ihr verstecken?" Ich denke, die CIA ist bereit dazu, Material zu veröffentlichen, auch wenn es sie in ein schlechtes Licht rückt. Warum tut der BND nicht dasselbe, um wenigstens mit seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen? Wovor hat man dort Angst?

Waren Sie überrascht über die Medienresonanz, die Ihre Nachforschungen hervorgerufen haben, obwohl sie eigentlich nur einen Status-Report geben wollten?

Logo vor der Zentrale Bundesnachrichtendienst in München
Naftali fragt: "Wovor hat man beim BND Angst?"Bild: AP

Ich war überrascht, dass die Presse sich hauptsächlich darauf konzentrierte, was die CIA nicht getan hatte. Tatsächlich war es in den späten 1950er Jahren die Angelegenheit Westdeutschlands, Nazis aufzuspüren. Und ich war überrascht, dass gerade die deutschen Zeitungen nicht schrieben. "Warum haben wir unsere Kriegsverbrecher geschützt?" Oder, vielleicht ist schützen zu viel gesagt. Warum haben sie nicht gefragt: "Warum haben wir uns damit zufrieden gegeben, ihn im Exil leben zu lassen? Haben wir Angst vor dem, was er sagen könnte?" Eigentlich ist dies keine amerikanische Geschichte. Dies ist eine deutsche Geschichte.

Elizabeth Holtzman, Mitglied im Ausschuss der IWG (Nazi War Crimes and Japanese Imperial Government Records Interagency Working Group) hat gesagt, diese Dokumente "zwingen dazu, uns nicht nur mit dem moralischen, sondern auch mit dem praktischen Schaden auseinanderzusetzen", der durch das Anwerben von ehemaligen Nazis für die Geheimdienste entstanden ist. Welche Schlüsse ziehen sie aus der Verwendung solch fragwürdiger Quellen für die Geheimdienstarbeit?

Das moralische Argument ist ja hinreichend bekannt. Aber das Gegenargument war immer: "Die Leute sind hilfreich, und manchmal muss man eben moralische Kompromisse eingehen." Alles, was ich dazu sagen kann, ist: Die Öffentlichkeit ist nun eingeladen, einen Blick auf die Aufzeichnungen dieser Leute zu werfen, dann kann sie ihre eigenen Schlüsse ziehen, ob dieser moralische Kompromiss hilfreich war. Und in den meisten Fällen waren diese Leute schlicht nicht sonderlich produktiv.

Der Zweite Weltkrieg ist mittlerweile 60 Jahre her. Ist es immer noch wichtig, Dokumente aus der Nazi-Zeit zu erforschen?

Es ist gesund für eine Gesellschaft, das Verhalten ihrer Geheimdienste richtig einschätzen zu können, auch dann, wenn dieses Verhalten Aktivitäten betrifft, die vor 50 Jahren passiert sind. Zudem hoffe ich, dass auch die Geheimdienste selbst ihre Lehren aus der Vergangenheit ziehen werden.

Timothy Naftali ist Direktor des "Presidential Recording Program" der Universität von Virginia am "Center of Public Affairs". Sein aktuelles Buch, das er gemeinsam mit Aleksandr Fursenko geschrieben hat, trägt den Titel "Krushchev's Cold War: The inside story of an American Adversary".