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Bauernaufstand in Brasilien

Sonja Lindenberg7. Juni 2006

Die landlosen Bauern in Brasilien kämpfen für die Umsetzung einer Landreform. Doch nicht nur sie leiden unter der Übermacht der Agrarindustrie - Tausende von Arbeitern werden von Großgrundbesitzern wie Sklaven gehalten.

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Anhänger der Bewegung der landlosen BauernBild: AP

Sie leben in Hütten aus schwarzen Plastikplanen, direkt am Straßenrand. In vielen Regionen gibt es ganze Dörfer davon, ihre Bewohner sind landlose Bauern. Sie warten darauf, dass die Regierung ihnen Land zur Bebauung zuteilt. In ganz Brasilien gibt es rund 4,6 Millionen Landlosenfamilien. Rund eine Million von ihnen wartet derzeit in solchen Camps auf die Zuteilung von Boden. Ihre Hütten sind dabei Zeichen eines stillen Protestes gegen die ungleiche Eigentumsverteilung im Land. Denn fast 50 Prozent der Grundstücke gehören nur rund 26.000 Landbesitzern.

Parlament verwüstet

Brasilien Landlose Bauern stürmen den Kongress in Brasilia
Jüngste Gewalt: Sturm auf das Parlament in der Haupstatdt BrasiliaBild: AP

Jetzt eskalierte die Situation: Rund 300 landlose Bauern haben am Dienstag (6.6.2006) das Parlament gestürmt. Mit Steinen und Stöcken schlugen sie die Fensterscheiben des Gebäudes ein und drangen bis zum Plenarsaal vor, in dem die Abgeordneten tagten. Nach eigenen Angaben wollten sie friedlich für mehr Einsatz der Regierung bei der Zuteilung von Boden im Zuge der versprochenen Agrarreform protestieren. Mehrere hundert Demonstranten wurden von der Polizei festgenommen. Sie gehörten der Landlosenbewegung MLST an, einer Abspaltung der schon seit Jahrzehnten für die Rechte der Bauern kämpfenden nationalen Landlosenbewegung MST (Movimento dos sem terra).

Aufstieg des Agrobusiness

Landwirtschaft und Urwald in Brasilien
Industielle Landwirtschaft hat sich durchgesetztBild: AP

Die Armut der Bauern ist Folge der Struktur der brasilanischen Landwirtschaft, in der sich eine industrielle Produktion durchgesezt hat - das Agrobusiness. "Große Farmen haben günstige Kredite erhalten und sind immer größer geworden", sagt Manfred Nitsch, emeritierter Professor am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Diese Gelder wurden in die Modernisierung der Betriebe gesteckt.

Landarbeiter wurden von Maschinen ersetzt. Die großen Agrarindustriellen hingegen gelangten zu immer mehr Land. Dabei sind die landlosen Bauern noch nicht einmal der Tiefpunkt der ungerechten Einkommensverteilung in Brasilien: Zahlreiche Großgrundbesitzer lassen sogar Arbeiter unter sklavenähnlichen Bedingungen für sich arbeiten.

Arbeiter als Sklaven

Die Landlosen fordern dabei immer wieder die Enteignung von Ländereien, auf denen Arbeiter unter menschenunwürdigen Bedingungen schuften müssen. "Die werden einfach irgendwo eingefangen und erhalten keinen Lohn", berichtet Nitsch. Eingesetzt werden sie meistens in abgelegenen Gebieten im Regenwald um Holz zu schlagen. "Weglaufen können sie von dort nicht", sagt der Brasilien-Kenner. Die Kriminellen sitzen dabei manchmal in den höchsten Schichten. "Das sind große Agrarindustrielle und sogar Parlamentarier", sagt auch Gilberto Calcagnotto vom Institut für Iberoamerika-Kunde (IIK) in Hamburg.

Im Kampf gegen diese Ausbeutung kann Staatspräsident Luiz Inacio Lula da Silva auch schon erste Erfolge verzeichnen: Mit regelmäßigen Polizeiaktionen und Kontrollen soll die Sklaverei verhindert werden. "Es gibt so eine Art schwarze Liste von Grundbesitzern, die in der Vergangenheit Sklaven gehalten haben sollen oder auch solche, von denen man weiß, dass sie das taten. Die werden immer wieder kontrolliert", sagt Calcagnotto.

Agrarreform mit Mängeln

Sklavenarbeit in Brasilien
Sklavenarbeit in Brasilien: Tausende werden ausgebeutetBild: AP

Weniger erfolgreich wird allerdings die Agrarreform unter Lula angesehen. Zahlreiche Familien hätten gehofft, unter Lula endlich ein Stück Land zu bekommen, erklärte die nationale Landlosenbewegung am Dienstag. Für sie zeige sich darin, die Unfähigkeit der Lula-Regierung, die eigenen Wahlversprechen zu erfüllen. Die Agrarreformpolitik sei völlig ineffizient. "Das liegt zum großen Teil an der Verfassung des lateinamerikanischem Land", sagt Nitsch.

Gesetz mit Grauzonen

Dabei ermöglicht die brasilianische Verfassung schon seit 1945 die Enteignung brachliegender Ländereien. Es gibt sogar eine eigene Behörde, die die Landverteilung regelt, das "Institut für Kolonisierung und Agrarreform" (Incra). Doch die Gesetzgebung ist kompliziert und wird durch die brasilianische Bürokratie noch erschwert. "Es gibt keine einheitliche Definition darüber, ab wann ein Stück Land brachliegt und somit enteignet werden kann", sagt Nitsch.

Für enteignetes Land erhalten die Großgrundbesitzer vom Staat eine Entschädigung. Doch fast immer legen die betroffenen Großgrundbesitzer Rechtsmittel gegen die Enteignung ein und feilschen um die Höhe der Entschädigung. Bis die Landarbeiter ihren Besitz erhalten könnten so Jahre vergehen, sagt Nitsch.

Kampf mit spektakulären Mitteln

Die Bewegung der Landlosen setzt unterdessen auf besonders spektakuläre Aktionen, mit denen die Aktivisten Aufmerksamkeit erzeugen wollen. "Damit schaffen sie es die Agrarreform auf der Tagesordnung zu halten", sagt Calcagnotto. Im Jahr 2005 wurde so das Finanzministerium besetzt. "Immer wieder überfallen sie aber auch Lastwagen um mit den erbeuteten Lebensmitteln die Bewohner der Dorfhütten zu ernähren", erzählt er.

Brasilien Landlose Bauern Demonstration in Brasilia
Demonstration in BrasiliaBild: AP

Zusätzlich verschärft werde die Auseinandersetzung dadurch, dass die Aktivisten, die bereits für den Erhalt von Land gekämpft haben, laut Gesetz solches nicht mehr bekommen dürften, berichtet Nitsch "Das führt natürlich zu einer sehr gewaltbereiten Selbstverteidigung dieses Landes." Der Kampf für das eigene Land forderte bereits zahlreiche Todesopfer. Seit dem Ende der Diktatur in Brasilien Mitte der 1980er Jahre kamen mehr als 1000 Menschen ums Leben. Nach gewalttätigen Übergriffen, so Nitsch, reagieren dann auch die Behörden und komme die Landzuteilung voran. "Wenn man Land habe will, muss es sozusagen erst Todesfälle geben", berichtet der Berliner Experte.

Schwarzhandel mit Landbesitz

Dabei hat sich schon ein richtiger Schwarzmarkt für Landbesitz gebildet, sagt Nitsch. Familien, denen ein Stück Land zugeteilt wurde, verkaufen es an andere Familien weiter und warten in den Camps auf die nächste Zuteilung. Nicht selten werden solche Pazellen aber auch an Großgrundbesitzer zurück verkauft, sagt Nitsch. "Der erwirbt die Hütten, macht sie platt und säht Soja aus."

Luiz Inacio Lula da Silva
Brasiliens Präsident Luiz Inacio Lula da SilvaBild: AP

Eine umfassende Agrarreform müsste daher vor allem die Verfahren zur Landverteilung neu organisieren und beschleunigen. Im Oktober muss sich Lula zur Wiederwahl stellen. Nitsch: "Für die Landlosenbewegung ist dies die Möglichkeit weiter Druck zu machen, aber auch Lula wird sich bis dahin weiter für die Umsetzung der Reformen einsetzen." Bis es soweit ist, bleibt vielen Bauern aber nur eine Möglichkeit an Land zu kommen: Sie können es sich "ersitzen". Wer zehn Jahre lang auf einem Stück Acker gelebt hat, darf dort laut Gesetz auch bleiben - Eigentümer ist er aber trotzdem nicht.