1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Tschernobyl-Katastrophe: Ausmaß jahrelang geheim gehalten

20. April 2006

Anstatt die Bürger über die Gefahren aufzuklären, ordnete die sowjetische Regierung an, das Ausmaß der Reaktor-Explosion geheim zu halten. Auch heute werden die Folgen des Unglücks in Weißrussland heruntergespielt.

https://p.dw.com/p/8HvP
Reaktor IV in Tschernobyl wenige Tage nach der ExplosionBild: AP

"Am schlimmsten war die Stille. Es gab überhaupt keine Informationen. Wir hatten tagelang keine Ahnung, unter welchem Damokles-Schwert wir uns befanden. Am 1. Mai - dem Tag der Arbeit - nahmen viele Menschen an öffentlichen Veranstaltungen teil, während eine radioaktive Wolke über ihnen schwebte. Ein Horror-Szenario wie von Steven King", erinnert sich der Strahlenforscher Aleksej Okeanow. Insgesamt seien in der Tschernobyl-Wolke rund 30 verschiedene radioaktive Stoffe gewesen.

Auch über Schutzmaßnahmen wurde die Bevölkerung nicht informiert. Erst zehn Tage nach dem Reaktor-Unglück wurde den Menschen empfohlen, Fenster geschlossen zu halten und die Füße gut abzutreten. Keiner wusste genau, warum, erinnert sich Irina Gruschewaja, Germanistik-Professorin aus Minsk: "Wir haben unsere Rechte an den Staat delegiert im besten Glauben, dass der alles für uns regeln wird. Woran ist leichter zu glauben: daran, dass du dein ganzes Leben jetzt umwerfen und mit nichts irgendwohin gehen musst, oder sich auf den Staat zu verlassen, der dich vertröstet und sagt, man hätte alles im Griff?"

Journalisten wurden mundtot gemacht

Tschernobyl sollte einfach weggedacht werden, damit die Menschen ruhig weiterleben. Insbesondere galt das für die frühere Sowjetrepublik Weißrussland, wo etwa 70 Prozent der freigesetzten Radioaktivität niedergingen. Diejenigen, die versuchten, das Thema in den Medien aufzuwerfen, wurden mundtot gemacht, so Alla Jaroschinskaja. Damals arbeitete sie als Journalistin für eine lokale Zeitung in der ukrainischen Stadt Schytomyr, die keine 70 Kilometer von Tschernobyl entfernt ist. Nach dem Reaktorunfall machte sie sich vor Ort ein eigenes Bild von der Lage und schrieb mehrere Artikel darüber. Doch sie durften nicht veröffentlicht werden. In den Medien wurde Tschernobyl als kleiner Störfall dargestellt, der die Gesundheit der Menschen in keiner Weise gefährdete.

Einblick in geheime Protokolle

Auf der Suche nach der Wahrheit wählten die Menschen in der Region Alla Jaroschinskaja zur Abgeordneten, damit sie ihre Rechte im Parlament durchsetzt. Sie arbeitete in einem Tschernobyl-Ausschuss und bekam Einblick in die streng geheimen Protokolle der operativen Gruppe des Politbüros. Dort wurden Informationen ausgewertet, die an die Bevölkerung weitergegeben werden durften. Alles, was dem Ansehen der Regierung in irgendeiner Weise schaden konnte, wurde ohne weiteres gesperrt: "Schon am 12. Mai wurden mehr als 10.000 Menschen mit akuter Strahlenkrankheit in Krankenhäuser eingeliefert. Da beschloss man, die zulässigen Strahlenwerte um das 40 bis 50-fache zu erhöhen. Dadurch wurden die meisten Menschen für gesund erklärt und ohne jegliche Behandlung aus den Krankenhäusern entlassen. Keiner weiß jetzt, ob sie noch am Leben sind."

Lebensmittel waren radioaktiver Müll

Die sowjetische Führung habe das Gesundheitspersonal angewiesen, die Zahlen über den Anstieg der Erkrankungen in den betroffenen Regionen geheim zu halten, so Jaroschinskaja. Als Ursache vieler Krankheiten wurden ungesunde Lebensweise, Angst vor Strahlenfolgen und soziale Probleme genannt. Wenige Tage nach dem Reaktorunfall hat man stark verseuchte Lebensmittel zum Verkauf freigegeben. Jaroschinskaja sagte: "Damals wurden 47 Tonnen radioaktives Fleisch in den Kühlhäusern vor Ort gelagert. Im Grunde war es nichts anderes als radioaktiver Müll. Da es aber in der Sowjetunion an Nahrungsmitteln mangelte, wurde das stark verseuchte Fleisch mit weniger belastetem im Verhältnis 1 zu 10 verarbeitet und landesweit verkauft. Nur die Hauptstadt Moskau blieb davon verschont. Die Menschen ahnten nicht, wie gefährlich die Lebensmittel waren, die sie aßen". Wie viele sowjetische Bürger davon betroffen waren, bleibt unbekannt. Da radioaktive Dosen in den Nahrungsmitteln relativ gering waren, fielen deren Auswirkungen nicht sofort auf.

Bürgerbewegung, bis Lukaschenko kam

Kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion gründete die Germanistik-Professorin Irina Gruschewaja mit ihrem Mann eine Bürgerbewegung mit dem Ziel, den Betroffenen zu helfen, mit den Folgen der Katastrophe fertig zu werden. Zwar verlor sie dadurch ihre Stelle als Professorin, traf aber Millionen Gleichgesinnter nicht nur in der Hauptstadt Minsk, sondern auch in vielen kleinen Orten. Gruschewaja erinnert sich: "Der erste Protest war der Tschernobyl-Fußmarsch im Jahr 1989 in Minsk, als etwa 50.000 Menschen neun Kilometer durch die Hauptstraße gingen, trotz Polizei, die angewiesen war, dies zu verhindern. Damit wollten wir zeigen: wir wollen leben, wir wollen gesehen werden. Danach kam eine sehr intensive Bewegung des Umdenkens".

Doch diese Bewegung dauerte nur so lange, bis Aleksandr Lukaschenko im Jahr 1994 zum Präsidenten gewählt wurde. Nach und nach begann er, zahlreiche Tschernobyl-Initiativen, die in den letzten fünf Jahren entstanden waren, unter seine Kontrolle zu bringen und die Nachwirkungen von Tschernobyl herunter zu spielen, so Irina Gruschewaja, die heute für ihre Aktivitäten kaum Freiraum hat: "Jeden Tag werden wir vertröstet: Man könne in den verseuchten Gebieten leben, die Gefahr sei vorüber. Die Hochschulabsolventen müssen zwei Jahre dort arbeiten, weil die Menschen in diesen Regionen Hilfe brauchen. Das ist der Versuch, uns auf den Stand des Jahres 1986 zu bringen, als alles durch die Sowjetmacht verheimlicht wurde".

Olja Melnik
DW-RADIO, 19.4.2006, Fokus Ost-Südost