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Antisemitismus

23. Januar 2012

20 Prozent der Deutschen sind latent judenfeindlich eingestellt. Das sagt eine Expertenkommission des Bundestags. Neben traditionellen Ressentiments gebe es auch neue Arten von Antisemitismus.

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Mit antisemitischen und Nazi-Parolen wurden Grabsteine auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Leipzig geschändet (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Noch immer ist der Antisemitismus in Deutschland weit verbreitet. Zu diesem Ergebnis kommt eine Expertenkommission, die im Auftrag des Deutschen Bundestags und der Bundesregierung im September 2009 ihre Arbeit aufgenommen hat. Ein Jahr lang untersuchten die Forscher – Historiker und Sozialwissenschaftler, Islamwissenschaftler und Mitarbeiter von Gedenkstätten und Projekten - das Phänomen. Ihre Ergebnisse haben sie in einem 200 Seiten starken Bericht festgehalten, der am Montag (23.01.2012) in Berlin vorgestellt wurde.

Bei den Rechten genauso wie bei Islamisten

Menschen blättern im Bericht zu Antisemitismus in Deutschland (Foto: dpa)
200 Seiten BerichtBild: picture-alliance/dpa

"Es ist eine umfassende Bestandsaufnahme, sowohl des Antisemitismus im politischen Extremismus wie in der Gesellschaft allgemein", erläuterte der Sprecher des Expertengremiums, Peter Longerich, der an der Universität von London lehrt. Nach wie vor sei der manifeste Antisemitismus in Deutschland im rechts-extremen politischen Lager verankert. Hier würden die meisten antisemitischen Straftaten verübt. Die Judenfeindschaft fungiere dabei gewissermaßen als Bindemittel im rechtsextremen Lager. Auch unter Islamisten sei Antisemitismus weit verbreitet. Dies werde bei einer Betrachtung des Islamismus im Nahen Osten und in Europa deutlich. Für die Bundesrepublik fehlten allerdings derzeit noch entsprechende empirische Studien. Daher könne man noch nicht genau sagen, wie weit der Antisemitismus tatsächlich in der islamischen Gemeinde in Deutschland verwurzelt sei.

Antisemitische Vorurteile und Klischees beschränkten sich jedoch nicht auf extremistische Gruppierungen. Vielmehr reichten sie bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. So werde auf deutschen Schulhöfen der Ruf "Du Jude" als Schimpfwort benutzt, unter Fußballfans gehörten antisemitische Lieder und Parolen zum Alltag. Dies sei allerdings keine neue Erkenntnis, erklärte der Historiker Julius Schöps. "Der Antisemitismus ist nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Dort ist er immer gewesen. Das Phänomen ist uralt."

Neue Formen seit der Staatsgründung Israels

Mitglieder einer Expertenkommission zur Verbreitung von Antisemitismus in Deutschland (Foto: dpa)
Die Expertenkommission will ihre Arbeit fortsetzenBild: picture-alliance/dpa

Dennoch, nach Meinung der Forscher gibt es auch neue Ausbildungen des Antisemitismus in Deutschland. So seien neben den traditionellen Ressentiments gegen Juden auch Vorurteile verbreitet, die sich erst als Reaktion auf den Holocaust und die Gründung des Staates Israel herausgebildet hätten. Zum Beispiel werde Juden häufig vorgeworfen, dass sie die Erinnerung an die Shoa, also die Vernichtung der europäischen Juden, instrumentalisierten, um daraus moralischen oder finanziellen Nutzen zu ziehen. Aber auch die Kritik am Staat Israel bediene sich oft antisemitischer Stereotypen: Zum Beispiel, wenn die israelische Politik gegenüber den Palästinensern mit der Verfolgung der Juden durch die Nazis gleichgesetzt werde. Dies überschreite dann, im Gegensatz zur legitimen Kritik an Israel oder der israelischen Regierung, die Grenze zum Antisemitismus, befand Elke Gryglewski, Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Sie erlebe dies oft in ihrer täglichen Arbeit mit Besuchergruppen. Meistens seien es jedoch ältere Besucher, die solche Vergleiche anstellten.

"Wenn wir die antisemitische Israelkritik mit dazurechnen, dann liegt der Prozentsatz antisemitischer Einstellungen zwischen 40 und 50 Prozent", so Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Eine Verbreitung dieses Gedankenguts, die häufig durch das Internet geschehe, sei kaum zu unterbinden. Dadurch drohe die Tabuisierung des Antisemitismus in Deutschland an Wirksamkeit zu verlieren.

Empfehlungen der Experten

Hinter einem Davidstern ist in Worms in der Synagoge ein Besucher in einer Gebetsbank zu sehen (Foto: dpa)
Wissen über das Judentum fehlt oft - trotz Schule und InformationskampagnenBild: picture-alliance/dpa

Um der Zunahme antisemitischer Einstellungen entgegenzuwirken haben die Experten in ihrem Bericht auch Empfehlungen ausgesprochen. Sie reichen von der besseren Vermittlung im Geschichtsunterricht an Schulen, über Aufklärungsarbeit im Bereich der politischen Bildung, bis hin zur Opferhilfe. Auch die wissenschaftliche und empirische Grundlage müsse weiter ausgebaut werden. So sollte in Zukunft verstärkt der Antisemitismus in Einwandererkreisen untersucht werden. Diese Studien dürften sich nicht nur auf islamische Migranten beschränken, sondern müssten auch die Zuwanderer aus Osteuropa in den Blick nehmen. Auch unter russlanddeutschen Einwanderern seien antisemitische Vorurteile weit verbreitet. Darüber hinaus müsse der Antisemitismus im links-extremen Milieu untersucht werden. Daran könnten sich auch Verfassungsschutzbehörden und Polizei beteiligen. Schließlich sollte das Expertengremium selbst seine Arbeit fortsetzen und in Zukunft weitere Berichte erstellen.

Dieser Wunsch stößt im Bundestag auf offene Ohren. Die Vertreter fast aller Fraktionen wollen dies unterstützen. "Ich wünsche mir in jeder Legislaturperiode eine Debatte über den Antisemitismus und als Grundlage dafür einen Bericht der Expertenkommission", sagte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse.

Autorin: Bettina Marx
Redaktion: Marlis Schaum