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Deutsch ade in der Wissenschaft?

8. November 2011

Vorbei die Zeit, in der Deutsch eine wichtige Wissenschaftssprache war: die Sprache Goethes, Kants und Humboldts ist abgehängt. Englisch dominiert weltweit. Gut für die internationale Forschung oder Anlass zur Sorge?

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Montage zum Thema Deutsch als Wissenschaftssprache: Goethe mit Laptop und Smartphone (Foto: picture-alliance/Bildagentur Huber / Montage: DW)
Bild: picture-alliance / Bildagentur Huber / DW-Montage

Nur noch ein Prozent der naturwissenschaftlichen Publikationen weltweit erscheinen auf Deutsch. Gemessen an der internationalen Bedeutung des Wissenschaftsstandorts Deutschland ist das erschreckend wenig. Auch innerhalb Deutschlands wird an Hochschulen immer mehr auf Englisch gelehrt und studiert; inzwischen sind fast 600 Studiengänge so zugeschnitten. Mitunter ist Englisch sogar die ausschließliche Sprache. Und geradezu absurd wird es, wenn deutsche Wissenschaftler Tagungen in mäßigem bis miserablem Englisch abhalten, selbst dann, wenn sie unter sich sind. Ist eine Sprachkrise ausgebrochen im Lande des großen Bildungsreformers und Uni-Gründers Wilhelm von Humboldt?

Porträt Prof. Dr. Ludwig M. Eichinger, Direktor des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim (IDS) ( Foto: Annette Trabold, IDS)
Prof. Ludwig M. EichingerBild: Annette Trabold, IDS

Ganz so dramatisch ist es nicht, meint Ludwig M. Eichinger, Direktor des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) und Germanistik-Professor an der Universität Mannheim: "Die deutsche Sprache ist in den Wissenschaften nicht am Ende, allerdings hat das Englische viele Räume erobert, die früher den Nationalsprachen gehört haben." Diese Veränderung, sagt er, sei zwar unumkehrbar. "Aber das heißt nicht, dass man nicht mehrsprachig sein sollte und dass das Deutsche gar keine Rolle mehr spielt."

Rating-Agentur für Wissenschaftler

Mit Hilfe der Mehrsprachigkeit ließe sich sowohl der wissenschaftliche Austausch auf internationaler Ebene wie auch das jeweils spezifische Vermögen einzelner Sprachen erhalten. Doch was so selbstverständlich klingt, ist nicht ganz einfach umzusetzen. Denn wer als Wissenschaftler Karriere machen will, muss möglichst häufig in Zitate-Datenbanken des Wissenschaftsbetriebs auftauchen. Doch die sind anglophon dominiert. Die bekannteste wird von einer Art Ratingagentur für Wissenschaftler erstellt, die Fachzeitschriften auswertet: Thomson Reuters, ein Privatunternehmen mit Sitz in den USA, ermittelt den sogenannten "impact factor", der - vor allem in den Naturwissenschaften und in der Medizin - als Maßstab für wissenschaftliche Qualität herangezogen wird. Oft genug zu Unrecht. Wo nur englischsprachige Aufsätze berücksichtigt werden, ergibt sich eine Schieflage.

Sorge um Deutsch als Wissenschaftssprache müsse man sich dennoch nicht machen, meint Ludwig M. Eichinger. "Aber man muss sich darum kümmern". Beispielsweise durch Initiativen wie die Einführung alternativer Zitate-Datenbanken. Verzeichnisse, in denen auch nicht-englischsprachige Publikationen ihren Platz finden, und sogar berücksichtigen, "dass Wissenschaftler Bücher schreiben", wie Eichinger anmerkt – eine Tatsache, die der "impact factor" vollkommen ausblendet.

Denkmal Wilhelm von Humboldts vor dem Hauptgebäude der HU Berlin (Foto: Heike Zappe, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Marketing und Fundraising der HU Berlin)
Sprachgenie Wilhelm von Humbolt schrieb grundsätzlich auf DeutschBild: HU Berlin / Heike Zappe

Sprache und "Weltansicht"

Dem Deutschen weiterhin einen Platz in der Wissenschaft zu sichern, ist besonders wichtig in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Denn je weniger es in der Forschung um Zahlen, Daten oder Statistiken geht, desto wichtiger werden genaue Begrifflichkeit und Differenzierungsvermögen der Sprache. Und nicht nur das: Es geht um ganze Denksysteme, um die Anschauung von Welt - die "Weltansicht", wie Wilhelm von Humboldt schrieb. Für Disziplinen wie Sprachen, Philosophie und sogar Musikwissenschaft ist es darum nicht gleichgültig, in welcher Sprache geschrieben und, vor allem, gedacht wird.

Mitunter beginnen die Probleme schon bei einem einzigen Begriff: Wie zum Beispiel soll man das Wort "Geist" ins Englische transportieren? Was schon für literarische Übersetzungen schwer zu entscheiden ist, kann in der Philosophie zu einer Kardinalfrage werden. Unterschiedliche Sprachen haben sogar verschiedene Strategien entwickelt, Wissenschaftliches zu formulieren. "Wenn man als deutscher Wissenschaftler beispielsweise einen englischsprachigen Aufsatz schreibt, muss man wissen, dass man sich sozusagen in ein anderes Wissenschaftssystem begibt", gibt Ludwig M. Eichinger zu bedenken. "Um die Erkenntnisfähigkeit so hoch wie möglich zu halten, ist es nötig, die verschiedenen Sprachen von Muttersprachlern bearbeiten zu lassen".

Im Großen Hörsaal der Fakultät für Physik und Geowissenschaften an der Universität in Leipzig verfolgen Studenten eine Vorlesung zum Thema Thermodynamik (Foto: picture-alliance /ZB)
An deutschen Unis wird immer mehr auf Englisch studiert - nicht nur in den NaturwissenschaftenBild: picture alliance/ZB

Mehr Selbstbewusstsein

Gerade in den "härtesten Geisteswissenschaften" wie Philosophie, so der IDS-Direktor, sei das Formulieren auf muttersprachlichem Niveau, mindestens aber das Verstehen von Texten in Originalsprache unabdingbar. Aber auch in Fächern wie Ingenieurs- und Rechtswissenschaften gebe es große Bereiche, "in denen das Deutsche noch prägend ist und Wichtiges zu sagen hat". Darum wünscht er sich ein stärkeres Selbstbewusstsein für die deutsche Sprache: "Man muss ihre Nützlichkeit an den Hochschulen stärker verkaufen. Sprachenpolitik sollte schon an den Schulen und im universitätsbegleitenden Bereich ansetzen." Um eine Konkurrenz zum Englischen soll es dabei nicht gehen: Mehrsprachigkeit – darin sind sich die Experten einig – ist in dieser Situation das Mittel der Wahl.

Das ist übrigens keine neue Erfindung, um die Herausforderungen der globalisierten Wissenschaft im 21. Jahrhundert zu bestehen. Große Philosophen haben das bereits vorgemacht, als Latein oder Französisch die tonangebenden Wissenschaftssprachen waren. Thomas Hobbes etwa verwendete neben Latein auch seine Muttersprache Englisch, René Descartes schrieb Latein und Französisch. Und Gottfried Wilhelm Leibniz, dessen Arbeitssprachen ebenfalls Latein und Französisch waren, ermahnte die Deutschen Ende des 17. Jahrhunderts, "ihren verstand und sprache beßer zu üben": ein frühes Bemühen, die deutsche Sprache überhaupt erst wissenschaftsfähig zu machen.

Humboldt: Genie der Mehrsprachigkeit

Keine hundert Jahre später verfasst Immanuel Kant, der etliche lateinische Arbeiten geschrieben hatte, seine berühmtesten Werke auf Deutsch. Und Wilhelm von Humboldt, die Lichtgestalt des deutschen Bildungswesens? Er schrieb grundsätzlich auf Deutsch. Aber er war ein Genie der Mehrsprachigkeit. Schon als Kind sprach er – angeblich fließend – Griechisch, Latein und Französisch. Später folgten Englisch, Italienisch, Spanisch, Baskisch, Ungarisch, Tschechisch und Litauisch. Dazu unzählige Sprachen, mit denen er sich wissenschaftlich befasste - von Sanskrit bis Altjavanisch. So viel Mehrsprachigkeit ist von den wenigsten Wissenschaftlern des 21. Jahrhunderts zu erwarten. Aber mehr als schlechtes Englisch sollte es wohl sein – nicht nur, aber auch zugunsten der deutschen Sprache.

Autorin: Aya Bach
Redaktion: Marlis Schaum