1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Afghanistan-Interview mit Thomas Ruttig

7. Oktober 2011

"Die Afghanen sind heute vom Westen nur noch enttäuscht," sagt Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network. Dabei habe der Westen vor zehn Jahren alle Chancen gehabt, die Sympathien der Bevölkerung zu gewinnen.

https://p.dw.com/p/12ld2
Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghan Analyst Network (AAN) in Kabul. (Foto: SWP Berlin)
Thomas RuttigBild: SWP Berlin

DW-WORLD.DE: Herr Ruttig, wo steht Afghanistan zehn Jahre nach Beginn der westlichen Intervention?

Thomas Ruttig: Ich erinnere mich an einen afghanischen Kollegen bei den Vereinten Nationen, der bei uns sauber gemacht hat. Eines Tages hat er mir erzählt, dass er eigentlich Meteorologie studiert hat an der Universität Kabul. Trotzdem machte er bei uns sauber. Er sagte damals zu mir: 'An dem Tag, an dem die Taliban fallen, werde ich mir meinen Handrasierer nehmen und meinen Bart abschneiden. Die Haare meines Bartes werde ich in einen kleinen Beutel packen und mir als Mahnung irgendwo hinhängen'. Dieser Mann hat seinen Bart bis heute.

Im Klartext: Die Erwartungen vieler Afghanen, die meiner Meinung nach auch berechtigt waren, haben sich nicht erfüllt. Die Sicherheitslage hat sich Jahr für Jahr verschlechtert. Die vielen Milliarden an Hilfs- und Wiederaufbaugeldern, die in das Land geflossen sind, haben nicht dazu geführt, dass der Großteil der afghanischen Bevölkerung heute besser lebt als damals. Es gibt ein paar mehr Rechte und Freiheiten, aber die stehen häufig nur auf dem Papier. Die kleine Gruppe von Leuten, die heute in Afghanistan an der Macht ist und herrscht, steht über dem Gesetz oder stellt sich über das Gesetz.

Was sind für Sie die Ursachen der anhaltenden Gewalt?

Der von Präsident George W. Bush proklamierte Krieg gegen den Terror hat die ganze Entwicklung in eine falsche Richtung gedrängt und in eine militärische Logik gepresst. Das US-Militär hat gerade in den letzten fünf, sechs Jahren die Regie über sämtliche Bereiche Afghanistans übernommen. Diplomaten und Zivilisten haben heute eigentlich relativ wenig zu sagen. Das meiste wird vom US-Militär bestimmt. Die haben Leute, die direkt mit den afghanischen Parlamentariern arbeiten. Die sind überall, und das hat alle anderen Bereiche zu Dienstfunktionen der Aufstandsbekämpfung gemacht.

Und die Taliban, die natürlich sehr stolz, nicht sehr gebildet und auch sehr nationalistisch sind, fanden es dann relativ leicht, sehr viele Leute zu rekrutieren, die schlechte Erfahrungen entweder mit den ausländischen Truppen gemacht haben oder mit der Art und Weise, wie westliche Politik umgesetzt worden ist. Natürlich ist immer gesagt worden, dass die Afghanen selber in der Führungsfunktion sind, aber alle wussten, dass die Entscheidungen allein in westlichen Regierungen gefallen sind. Auch das hat dazu beigetragen, ein Gefühl des Besetztseins auszuprägen.

US-Soldaten in einem nächtlichen Feuergefecht (Foto: dpa picture alliance)
Befreier oder Besatzer?Bild: picture alliance/dpa

War es falsch, dass man sich nach dem Angriff auf das Taliban-Regime entschieden hat, in Afghanistan demokratische Strukturen zu schaffen?

Es ist erklärbar und verständlich, dass die Amerikaner interveniert haben. Die politischen Gründe, warum sich die wichtigsten Alliierten angeschlossen haben, sind auch bekannt. Es gab damals auch zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans Beifall für eine auswärtige militärische und zivile Intervention, denn die Art und Weise, wie die Taliban ihr Land regiert haben, war nicht im Konsens mit der afghanischen Bevölkerung. Das ist äußerst bemerkenswert, und es ist äußerst bemerkenswert, wie sich die Stimmung bis heute gedreht hat.

Am Anfang hat das Bündnis meines Erachtens zu zaghaft agiert - ohne wirkliches Wissen über Afghanistan, und trotzdem mit einem erstaunlich grenzenlosen Optimismus, die ganze Sache schnell in den Griff zu kriegen. Afghanistan war der gute Krieg, Irak war der schlechte Krieg. Einer der großen Fehler des Westens war, die politischen Führer der afghanischen Bürgerkriegsparteien uneingeschränkt, trotz ihrer vorangegangenen massiven Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, wieder voll zum Baustein der politischen Struktur zu machen.

Was glauben Sie, worum geht es dem Westen heute noch?

Im Moment schauen alle nur Richtung Ausgangstür: raus aus Afghanistan, schnelle Übergabe der Sicherheits- und sonstigen Verantwortung an die Kabuler Regierung. Im Grunde heißt das nur: schnell nach Hause und nach uns die Sintflut. Das ist der Eindruck, den ich in Kabul gewinne. Und das lässt die Afghanen wieder allein.

Wir vergessen ja immer die afghanische Geschichte, wenn sie länger als zehn Jahre zurückliegt. Aber die Afghanen können sich an die letzten 30 Jahre noch ziemlich genau erinnern - mit all den Runden internationaler oder ausländischer Interventionen. Und an den Bürgerkrieg, in dem verschiedene Länder verschiedene Parteien ergriffen haben. Und das ist das eigentliche Ergebnis dieser Intervention: Die Afghanen sind vom Westen, von der Demokratie, von einem selbst bestimmten System, das sie am Anfang selber wollten, einfach nur enttäuscht.

Taliban-Kämpfer geben ihre Waffen ab (Foto: DW)
Gespräche brauchen viel Zeit und großen politischen Willen.Bild: DW

Am 5. Dezember geht der Petersberg-Prozess in Bonn weiter. Wenn man den offiziellen Stimmen glaubt, sollen Vertreter der Taliban-Bewegung in den Verhandlungsprozess einbezogen werden.

Ich glaube nicht, dass die Taliban im Dezember in Bonn auftauchen und sagen: 'Ja, wir sind auch für den Frieden, und wir verhandeln jetzt mit Euch'. Soweit ist es noch lange nicht. Ich glaube aber, dass es der richtige Ansatz ist, mit den Taliban eine politische Lösung zu suchen. Doch das kriegt man so schnell nicht hin. Es ist sehr viel Zeit vergeudet worden, als die Bedingungen noch weitaus besser waren – als die Taliban nach dem Sturz ihrer Regierung schwach waren. Heute sind sie wieder stark und ihre politischen Ziele sind Maximalziele. Sie wollen ihr Emirat zurück. Das heißt konkret: Sie wollen ein nicht pluralistisches Afghanistan, und das ist für 90 Prozent der Afghanen absolut indiskutabel. Man wird also erst mal herausfinden müssen, ob die Taliban auch zu Kompromissen bereit sind.

Danach wird man einen langen Gesprächsprozess beginnen müssen, und im Grunde ist es gut, dass es noch viel Zeit braucht, bis man wirklich zu substantiellen Verhandlungen kommen kann. Denn auch in Afghanistan selbst ist die Frage, ob man mit den Taliban reden soll und ob man sie wieder in die Regierung einbeziehen soll, äußerst umstritten. Diesen Konsens muss man erst mal mit all den politischen und sozialen Kräften finden, die heute in Afghanistan eine Rolle spielen. Erst dann kann man gemeinsam in Gespräche mit den Taliban gehen.

Wir dürfen nicht vergessen: Viele der Bruchlinien des afghanischen Bürgerkrieges sind noch da. Die Narben und Traumata sind noch da. Es gibt unter den Afghanen, ob politisch aktiv oder nicht, ein tiefes Misstrauen schon gegen den eigenen Nachbarn. Und das haben wir aus dem Westen durch unsere Augen-zu-und-durch-Strategie der letzten zehn Jahre noch verschlimmert. Es gibt also keine Garantie, dass eine Verhandlungslösung funktioniert. Aber es gibt, so glaube ich, eine Garantie, dass es militärisch nicht zu machen ist.

ISAF-Abzeichen auf der Uniform eines Bundeswehrsoldaten in Afghanistan (Foto: AP)
Deutschland beteiligt sich mit knapp 5000 Soldaten an der Afghanistan-Mission.Bild: AP

Viele Deutsche haben das Interesse verloren und sehen Afghanistan als hoffnungslosen Fall, als Terrorstaat. Warum sollten sich die Menschen in Deutschland heute noch für Afghanistan interessieren?

Weil die Afghanen Menschen sind wie sie selbst, die nach einem ordentlichen, würdevollen Leben streben. Die Terroristen, die unsere Mattscheiben bevölkern, sind ja nur eine verschwindend kleine Minderheit, der es manchmal gelingt, Leute mitzureißen. Wir haben am 11. September 2001 hoffentlich gemerkt, dass man es sich nicht leisten kann, Länder wie Afghanistan einfach zu ignorieren. Wenn es den Leuten dort besser geht, wenn es dort stabile politische Verhältnisse und auch halbwegs stabile ökonomische Verhältnisse gibt, dann können auch wir ruhiger leben. Wir sollten auch aus Eigeninteresse Afghanistan nicht aufgeben. Aber in der globalisierten Welt sollten wir auch nicht immer nur an unsere eigenen Interessen denken, sondern auch daran, dass andere Menschen auch Rechte haben.

Was ist für Sie die zentrale Lehre aus dieser Intervention?

Die Lehre ist, dass man Probleme nur lösen kann, wenn man so viele Menschen wie möglich aus der örtlichen Bevölkerung mit in die politischen Entscheidungsprozesse einbezieht. Man kann nicht intervenieren und sagen: 'Wir wissen alles besser. Wir zeigen euch jetzt mal, wie es geht'. Es geht nur gemeinsam. Wir haben auch keine Lösung. Wir haben in Afghanistan gelernt, dass wir keine tauglichen Mittel haben, große Regionalkonflikte einfach mal so zu entschärfen. Die UN haben nicht funktioniert, die NATO funktioniert dort auch nicht, und wir haben keine andere Organisation, die es machen kann. Wir müssen also darüber nachdenken, wie man in Zukunft mit solchen Konflikten umgeht.

Thomas Ruttig ist Ko-Direktor des 'Afghanistan Analysts Network', einer unabhängigen Denkfabrik mit Sitz in Kabul und Berlin. In den vergangenen zehn Jahren hat er auch für die Vereinten Nationen, die Europäische Union und die deutsche Botschaft in Kabul gearbeitet.

Das Interview führte Sandra Petersmann
Redaktion: Martin Muno