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Wichtige Karlsruher Entscheidungen

28. September 2011

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinen Entscheidungen immer wieder auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland reagiert - und den Diskurs im Gegenzug auch wieder angeregt. Ein Überblick.

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Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (Foto: dpa)
Seine offene Bauweise symbolisiert Transparenz: Das BundesverfassungsgerichtBild: 2000 BVerfG

Manche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts betreffen den innersten Bereich von Familie, Partnerschaft und Intimleben. In den 1970er Jahren erklärte Karlsruhe Regelungen zum straffreien Schwangerschaftsabbruch für verfassungswidrig, weil der Schutz des Lebens nicht gewährleistet sei. Die ohnehin schon seit den 1960er Jahren heftige gesellschaftliche Diskussion rund um das Thema Abtreibung schlug hohe Wellen. Auch die Entscheidungen zur so genannten "Homo-Ehe", die den Weg zur Gleichbehandlung von Ehe und der Lebenspartnerschaft Homosexueller ebneten, erregten öffentliches Aufsehen.

Kruzifix, Kopftuch, Zensus

Ein Kreuz hängt im Klassenzimmer einer Grundschule (Foto: dpa)
Religiöse Symbole in Klassenzimmern?Bild: picture-alliance/dpa

Auch im Bereich Religionsfreiheit fielen aufsehenerregende Entscheidungen: So verlangte das Bundesverfassungsgericht im Kopftuch-Urteil eine gesetzliche Grundlage für ein Kopftuch-Verbot für Lehrerinnen. Im Kruzifix-Beschluss erklärte es das generelle Anbringen von Kreuzen und Kruzifixen in bayrischen Klassenzimmern, wie es im dortigen Schulgesetz festgeschrieben war, für verfassungswidrig.

Im Volkszählungsurteil von 1983 entwickelte Karlsruhe das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung: Es ist das Recht des einzelnen, über die Verwendung und Verbreitung seiner personenbezogenen Daten zu entscheiden.

Es war der Beginn einer Reihe von Datenschutz-Urteilen. Ähnliche Schutzbereiche betrifft das berühmte Urteil zum so genannten Großen Lauschangriff 2004, das die akustische Wohnraumüberwachung zum Teil für verfassungswidrig erklärte.

Welches Leben ist mehr wert?

Zwei 'Phantom F4-F' - Jagdflugzeuge der Bundeswehr im Flug (Foto: AP/Luftwaffe, HO)
Abschuss eines gekaperten Passagierflugzeugs verboten!Bild: AP/Luftwaffe

Der Kampf gegen die organisierte Kriminalität und - vor allem nach dem 11. September 2001 - den internationalen Terrorismus führte zu neuen Gesetzen - und zu ihrer kritischen Überprüfung. So verbot das Bundesverfassungsgericht das so genannte Luftsicherheitsgesetz im Jahr 2005. Danach hätte ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug notfalls abgeschossen werden sollen, um zu verhindern, dass es - wie bei den Anschlägen in den USA 2001 geschehen - zur Waffe umfunktioniert wird. Mit dem Abschuss der Maschine mit Menschen an Bord sollte ein Verbrechen mit noch höheren Opferzahlen verhindert werden. Eine derartige Abwägung - einige Menschenleben gegen mehr Menschenleben - widerspreche dem Grundgesetz, urteilte das Gericht.

Vertraulichkeit im Internet

Im Online-Durchsuchungs-Urteil von 2008 folgte ein weiteres, ebenso wie das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht explizit im Grundgesetz festgeschriebenes Grundrecht: Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme. Nur unter strengen Voraussetzungen und bei Vorliegen einer konkreten Gefahr für ein wichtiges Rechtsgut darf unter Richtervorbehalt eine solche Durchsuchung digitaler Daten stattfinden.

Presserecht und Persönlichkeitschutz

EU-Flagge und Justizia (Grafik: DW)
Europäisches und deutsches RechtBild: DW

Auch im Bereich Meinungs- und Pressefreiheit wurden wichtige Urteile gefällt: Im Ersten Rundfunk-Urteil von 1961 wird das vom damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer geplante "Deutschland-Fernsehen" als Staatsfernsehen für verfassungswidrig erklärt. Im Lebach-Urteil von 1973 entscheidet das Gericht, dass das Persönlichkeitsrecht und die Möglichkeit zur Resozialisierung eines Beteiligten an der Ermordung von vier Soldaten am Bundeswehrstandort Lebach Vorrang hat vor der Pressefreiheit. Damit wurde die Ausstrahlung eines Dokumentarfilms mit Namen und Fotos der Täter unterbunden.

Parteiverbote

Zu erwähnen sind die Urteile zum Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) im Jahr 1952 und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) im Jahr 1956. Ein Verfahren zum Verbot der rechtsradikalen NPD musste 2003 eingestellt werden. Bei einer Weiterführung bis zum beabsichtigten Verbot hätte die Gefahr einer Enttarnung der zur Beobachtung eingesetzten V-Männer bestanden.

Europa vor dem Karlsruher Richterstuhl

Altes Fernsehgerät (Foto: dpa)
Fernsehgerät aus der AnfangszeitBild: picture-alliance/ dpa

Und auch dort, wo die deutsche Verfassung von europäischem Recht berührt wird, nehmen die Karlsruher Richter Stellung: In der so genannten Solange I - Entscheidung 1974 befand das Gericht, dass es zuständig dafür sei, EU-Recht auf seine Vereinbarkeit mit deutschem Recht prüfen zu dürfen, solange eben das EU-Recht keinen eigenen Grundrechtsschutz habe. Mit der Solange II - Entscheidung 1986 wurde die erste Entscheidung wieder aufgehoben, da nunmehr Grundrechtsschutz besteht. In der Fortsetzung dieser Entscheidungen erklärte das Gericht im Maastricht-Urteil von 1993 den gleichnamigen EU-Vertrag und mögliche Kompetenzübertragungen für grundgesetzkonform.

Im Lissabon-Urteil von 2009 forderte das Bundesverfassungsgericht mehr Rechte für das deutsche Parlament. Dies forderten die Verfassungsrichter auch, als sie Anfang September 2011 den Euro-Rettungsschirm und die Griechenland-Hilfen für grundsätzlich verfassungskonform erklärten.

Autorin: Daphne Grathwohl
Redaktion: Hartmut Lüning