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Studentenproteste in Chile

5. August 2011

Der Konflikt zwischen der studentischen Protestbewegung und der chilenischen Regierung eskaliert. Die Regierung ruft zum Dialog im Kongress auf. Studenten und andere soziale Akteure fordern strukturelle Veränderungen.

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Ein Demonstrant wird weggetragen (Foto: dpa)
Chilenen fordern bessere BildungschancenBild: picture-alliance/dpa

"Piñera - lerne zu regieren!", riefen hunderte Schüler, Studenten und Professoren, als sie am Donnerstag (04.08.2011) versuchten, zum Präsidentenpalast La Moneda vorzudringen. 1000 Polizisten, darunter berittene Einheiten der Bereitschaftspolizei, gingen mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Demonstranten vor. Diese setzten Barrikaden in Brand und errichteten Straßenblockaden. Von landesweit mehr als 550 Festnahmen, zwei leichtverletzten Jugendlichen und über 20 verletzten Polizisten berichtet die Regierung nach vorläufiger Einschätzung.

Wie zu Zeiten der Diktatur?

Sebastian Piñera (Foto: DW)
Sebastian Piñera "reicht es" - er hat die Proteste verbotenBild: dapd

Die Demonstrationen für Reformen in der öffentlichen Bildung halten seit zwei Monaten an und wurden am Donnerstag von der Regierung verboten. "Es reicht", sagte kürzlich der konservative Präsident Sebastián Piñera, als er zur Beendigung der Proteste aufrief. "Die Polizei hat gesetzeskonform und mit voller Unterstützung der Regierung gehandelt", unterstrich der Regierungssprecher Andrés Chadwick, Cousin von Piñera.

Das Protestverbot bezieht sich auf ein Gesetz aus der Zeit des De-facto-Regimes Augusto Pinochets (1973-1990). Die Regierung will im Kongress nach Lösungen suchen. Der sozialistische Senator Fulvio Rossi kündigte jedoch an, dass die Opposition alle Gesetzesinitiativen blockieren werde. Damit will sie ein Zeichen gegen die Repression von Minderjährigen setzen.

"Bürger und Beobachter sind perplex"

"Das Szenario erinnerte sehr an den Ausnahmezustand zu Zeiten der Diktatur", betonte die studentische Aktivistin Camila Vallejo. Das Vorgehen der Regierung erntete Kritik von Menschenrechtsorganisationen, von der Mitte-Linken Concertación in der Opposition und von der Zivilgesellschaft.

Polizist rennt vor steinewerfenden Demonstranten weg (Foto: AP)
Bild: AP

"Es gab eine Atmosphäre von starker Repression, die Bürger und Beobachter sind perplex", erklärt Leslie Wehner vom GIGA Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg im Interview mit DW-WORLD.DE. In der Hauptstadt und weiteren elf Städten "verschafften sich die Menschen mit Töpfen Gehör. Die Zivilgesellschaft protestierte von ihren Fenstern und Balkonen aus und stellte sich damit auf die Seite der Protestbewegung", schlussfolgert der chilenische Politologe des GIGA Instituts.

Bildung ist zu teuer

Die Schüler und Studenten lehnen sich gegen die hohen Kosten für Bildung in Chile auf. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) liegt Chile unter den Ländern mit den höchsten Bildungskosten weltweit.

In Chile dominieren seit der Pinochet-Diktatur private Schulträger. Auch die nachfolgenden Mitte-Links-Regierungen (1990-2010) änderten daran nichts. Für die Schulbildung ist nicht der Zentralstaat verantwortlich, sondern die Kommunen. 80 Prozent der Studienkosten müssen von den Studenten selbst finanziert werden. Viele starten deshalb mit einem Schuldenberg von etwa 60.000 US-Dollar ins Berufsleben.

Soziale Ungleichheiten trotz erfolgreicher Konjunktur

Die Studenten-Demonstrationen waren nicht die einzigen sozialen Proteste dieses Jahr. Auch Umweltaktivisten und Mitarbeiter des staatlichen Kupferunternehmens CODELCO demonstrierten. Die Protestwelle ist die größte seit Ende der Diktatur. Hintergrund sind soziale Ungleichheiten in Chile, bemerken Experten.

Das Bruttoinlandsprodukt Chiles soll 2011 um sechs bis sieben Prozent wachsen - das wäre einer der größten Zuwächse in Lateinamerika. Aber die erfolgreiche Konjunktur der Volkswirtschaft "hat nicht die erhofften sozialen Auswirkungen gezeigt, und die Mängel im Bildungswesen sind nur ein Indikator dafür", sagt Leslie Wehner.

Die politische Elite in der Krise

Die Unterstützung des Präsidenten Piñera ist auf 26 Prozent gesunken, berichtet das chilenische Meinungsforschungsinstitut "Centro de Estudios Públicos". Aber die Protestbewegung richtet sich gegen "die gesamte politische Elite, einschließlich der Concertación", erklärt der Forscher des GIGA Instituts.

Piñera kam im März 2010 an die Macht, nachdem das Parteienbündnis Concertación nach vielen Jahren unter anderem aufgrund mehrerer Korruptionsskandale an Popularität verloren hatte, sagt Wehner. Mittlerweile überlegen die Studenten, sich mit anderen sozialen Akteuren zu einer gemeinsamen politischen Front zu vereinen. Die politische Elite hat an Legitimität verloren, dennoch stellen die Proteste "kein Risiko für die institutionelle Stabilität des Landes dar", meint der Politologe. Jedoch setzen sie die Regierung unter Druck, "mehr auf die Forderungen seitens der Kritiker einzugehen".

Autorin: Rosa Muñoz Lima / Lisa Conrad (dpa, epd, reuters
Redaktion: Pablo Kummetz / Julia Elvers-Guyot