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Moderner Journalismus und soziale Medien

19. Juni 2011

Die sozialen Medien verändern den Journalismus radikal. Aber Facebooker, Youtuber und Blogger können den professionellen Journalismus nicht ersetzen, sagt Joel Simon vom "Committee to Protect Journalists" in New York.

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Portraitfoto von Joel Simon, geschäftsführender Direktor des 'Committee to Protect Journalists' (CPJ) (Foto: CPJ)
Medienexperte Joel SimonBild: CPJ

DW-WORLD.DE: Herr Simon, wie sieht Ihre Definition eines Journalisten aus?

Joel Simon: Einfach gesagt sind Journalisten dazu da, Informationen zu sammeln und zu verbreiten, die für die Öffentlichkeit von Bedeutung sind. Es gibt professionelle Journalisten, die das machen, und es gibt Menschen, die das als Bürger machen. Das entwickelt sich mit der Zeit.

Die neuen Technologien haben dafür gesorgt, dass es heute mehr Bürgerjournalisten gibt als jemals zuvor in der Geschichte. Journalismus ist kein Beruf, für den man eine Lizenz braucht. Jeder kann ein Journalist sein. Wir verteidigen die Rechte von professionellen, etablierten Journalisten, von unabhängigen Journalisten und von Bürgerjournalisten.

Sind Blogger automatisch Journalisten?

Blogger können Journalisten sein. Wir beurteilen das mit gesundem Menschenverstand, wenn Sie so wollen. Wenn wir uns mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob es sich bei einer bestimmten Person um einen Journalisten handelt oder nicht, dann lesen wir den Blog, den diese Person geschrieben hat. Wir lesen ihn in der Originalsprache. Wir sehen uns den Zusammenhang an, in dem er geschrieben worden ist, und wir beurteilen die Funktion des Blogs. Wir kommen fast immer sehr schnell zu einer Entscheidung.

Nicht alle Blogs sind Journalismus. Aber es gibt viele Blogs, die absolut journalistisch sind, unserem Verständnis von Journalismus entsprechen und deren Autoren einen Anspruch auf unsere Verteidigung haben.

2009 haben Sie mal gesagt, dass Blogger "an der Spitze der Online-Revolution" stehen. Bilden sie auch die Spitze des modernen Journalismus?

Damals standen die Blogger im Mittelpunkt, weil das Bloggen das wichtigste Medium war, mit dem sich die Öffentlichkeit im Journalismus engagierte. Heute sind wir schon wieder viel weiter. Heute gibt es Twitter, Facebook, Youtube und andere soziale Medien. Das ist ein fortlaufender Prozess.

Die Online-Revolution institutionalisiert die Fähigkeit der Bürger, sich im Journalismus zu engagieren. Sie institutionalisiert ihre Kapazität, Wissen zu verbreiten und einer ausgewählten, größeren Öffentlichkeit das zur Verfügung zu stellen, was sie denken und sehen. Aber diese Bürgerjournalisten machen professionelle Journalisten nicht überflüssig. Professionelle Journalisten sind im Beruf ausgebildet, sie haben Medienhäuser und Ressourcen hinter sich.

Logo des 'Committee to Protect Journalists' (www.cpj.org), eine weltweit agierende NGO mit Sitz in New York, die für den Schutz von Journalisten und für Pressefreiheit kämpft (Foto: CPJ)
Das CPJ hat mächtige Gegner.

Wir brauchen professionelle Journalisten. Sie können sich mit den Bürgerjournalisten sinnvoll ergänzen. Wir profitieren davon, wenn wir uns mit neuen Quellen und mit neuen Wegen der Informationssammlung und Informationsverbreitung auseinandersetzen müssen.

In Ihrem "Gefängnis-Zensus 2010" haben Sie 145 Fälle inhaftierter Journalisten dokumentiert. 69 davon sind Online-Journalisten, die meisten sind Blogger. Wie sehr verändert die Online-Revolution Ihre Arbeit als Organisation, die weltweit dafür kämpft, dass Journalisten ohne Angst berichten können?

Schauen Sie sich die Fälle mal ganz genau an. Fast alle inhaftierten Blogger sitzen im Gefängnis, weil sie eine Meinung vertreten haben. Sie haben kommentiert. In repressiven Gesellschaften gibt es keine offiziellen Kanäle, über die man seine Meinung sagen könnte und die Regierung kritisieren könnte. Also haben sich die Betroffenen entschieden zu bloggen oder sie haben andere soziale Medien benutzt. Die betroffenen Regierungen haben sehr schnell realisiert, dass dieser neue Bürgerjournalismus eine Bedrohung für sie ist. Deswegen schlagen sie zurück.

China und Iran sind herausragende Beispiele. Diese beiden verhaften mehr Journalisten als jedes andere Land auf dieser Welt. Es ist ja auch tatsächlich so, dass die wachsende Fähigkeit der Menschen, in repressiven Gesellschaften Informationen zu sammeln und zu verbreiten, Regime bedroht. Wir haben das in den vergangenen Monaten in Nordafrika und im Nahen Osten verfolgen können. Regime reagieren auf diese Bedrohung mit immer neuen Repressalien, um ihre Machtinteressen zu verteidigen.

Nehmen wir mal die Videos und Bilder als Beispiel, die uns in diesen Tagen aus Syrien erreichen – oder die uns im Sommer 2009 während der grünen Revolution aus dem Iran erreicht haben. Vielen Menschen hat sich damals über Youtube vor allem das Handy-Video der getöteten Studentin Neda ins Gedächtnis gebrannt. Ohne die Youtuber und Blogger hätten die professionellen Medien des Auslands nicht darüber berichten können. Sie könnten aktuell auch fast nichts aus Syrien berichten.

Das stimmt. Aber der Fall Syrien zeigt uns ja gerade auch sehr deutlich, wo die Grenzen des Bürgerjournalismus liegen und was es bedeutet, wenn professionelle Journalisten nicht am Ort des Geschehens sind. Wir erfahren nur sehr bruchstückhaft, was in Syrien passiert. Unser Bild ist fragmentarisch. Es sind nur Kleinteile, aber es ist nichts Zusammenhängendes. Wir können das kaum zusammenfügen. Wir können es nicht überprüfen und wir können es sehr oft auch nicht wirklich nachvollziehen.

Die syrische Regierung hat die internationalen Medien von Anfang an systematisch daran gehindert, ihrer Arbeit nachzugehen. Die syrischen Medien hat sie komplett zum Schweigen gebracht. In diese Lücke sind Bürgerjournalisten und Menschenrechtsaktivisten gestoßen, obwohl sie dabei ihr Leben riskieren. Sie liefern uns wenigstens ein paar Informationen über das, was sich in Syrien abspielt. Aber unser Wissen bleibt einseitig und lückenhaft, und das ist absolut nicht akzeptabel.

Verzweifelter Syrer mit Kind auf dem Arm in einem Flüchtlingslager in der Türkei (Foto: dapd)
Syrische Flüchtlinge in der Türkei - die Welt soll nicht erfahren, was in ihrer Heimat geschieht.Bild: dapd

Wer kann besser über Menschenrechtsverletzungen berichten – ein Bürgerjournalist wie ein Blogger oder ein professioneller Journalist, der ein großes Medienhaus im Rücken hat?

Ich glaube, sie stärken sich gegenseitig. Blogger erreichen fast immer eine deutlich kleinere und eine ausgewählte Öffentlichkeit. Sie erreichen eine Öffentlichkeit, die sich für die Themen interessiert, über die ein Blogger schreibt. Die traditionellen Medien erreichen im Vergleich dazu ein Massenpublikum. Sie richten sich ganz überwiegend an die allgemeine Öffentlichkeit. Die Arbeit der Blogger oder der anderen Bürgerjournalisten in den sozialen Netzwerken regt die Arbeit der professionellen, etablierten Medien an. Diese sind dann in der Lage, das Bild für eine größere Öffentlichkeit zu vervollständigen.

Die Fähigkeit der Bürgerjournalisten, mit den Ereignissen zu verschmelzen, sie als Teil der Ereignisse heimlich zu dokumentieren und anschließend so gut sie können zu veröffentlichen, ist ein neues Werkzeug von unschätzbarem Wert für die etablierten Medien. Der Bürgerjournalismus verbessert und verstärkt den professionellen Journalismus der etablierten Medien.

Professionelle Journalisten wie Sie und ich lernen im Idealfall, Informationen zu sammeln, zu überprüfen, auszuwerten und zu veröffentlichen, ohne sich mit einer Seite gemein zu machen. Aber ist es nicht falsch, auch dann noch neutral bleiben zu wollen, wenn es um schwere Menschenrechtsverletzungen geht? Wann kommt der Punkt, an dem man sich klar auf eine Seite stellen muss, was die Bürgerjournalisten wie selbstverständlich tun?

Es gibt viele verschiedene Arten von Journalisten. Auch unter den professionellen Journalisten gibt es viele, die eine ganz klare Meinung vertreten. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und die Täter anzuprangern.

Wichtig ist, dass wir immer den Fakten verpflichtet sind. Wir müssen immer für neue Informationen offen sein, und wir müssen die Informationen abgleichen und überprüfen, bevor wir sie verbreiten. Das sind die ethischen Pflichten eines professionellen Journalisten. Objektivität und Unparteilichkeit gehören nicht für alle Journalisten dazu. Natürlich gibt es große Medienhäuser, die darauf bestehen. Aber es gibt auch die Häuser, die ganz klar Parteigänger sind.

Symbolbild: Presse, Fernsehen, Internet - Montage mit Satelitenschüssel, Fernsehbildschirm und einem schemenhaften Journalisten am Computer (Foto: AP/DW)
"Wir sind immer den Fakten verpflichtet!"Bild: AP Graphics/DW

So oder so – Journalisten haben schon alleine deshalb die Pflicht, über Menschenrechtsverletzungen zu berichten, weil sie berichtenswert sind. Nicht jeder Journalist, der sich der Neutralität verpflichtet fühlt, muss automatisch seine Neutralität aufgeben, wenn er über Menschenrechte berichtet.

Ist die Internet-Revolution eher eine Gefahr oder eher eine Chance für die Pressefreiheit und damit auch die Berichterstattung über Menschenrechte?

Beides. Es ist zu allererst eine Revolution der Kommunikationstechnologie. Ich habe darüber auch mit Menschen gesprochen, die das aus der historischen Perspektive betrachten. Damals ging es um Fernschreiber, Telefon, Radio und Fernsehen. Jedes neue Medium, das es uns Menschen erlaubt hat, schneller und effektiver miteinander zu kommunizieren, hat den Journalismus verändert. Das trifft heute genauso zu.

Die Technologie, die uns Journalisten heute zur Verfügung steht, ist beispiellos und sie beeinflusst die Art und Weise, wie Journalisten ihre Arbeit machen, tiefgreifender als jemals zuvor. Das hat natürlich auch weitreichende ökonomische Folgen. Aber am Ende wird sich das von selbst einrenken, weil es einen tief sitzenden menschlichen Impuls gibt, sich zu informieren und Informationen weiterzugeben. Dieser Impuls bleibt. Das Medium mag sich verändern, aber die grundlegende Aufgabe des Journalismus bleibt bestehen.

Trotz Facebook, Twitter und Blogs – die Welt braucht das professionelle journalistische Handwerk?

Diese Welt braucht uns Journalisten mehr als jemals zuvor. Die Anzahl der Journalisten und die Art der Journalisten verändern sich. Im institutionalisierten Journalismus kriselt es, weil das Wirtschaftsmodell kriselt. Aber das weltweite Grundbedürfnis der Menschen, über das informiert zu werden, was um uns herum geschieht, nimmt zu. Unsere zunehmende Vernetzung verstärkt unseren Informationswunsch.

Wir Journalisten haben eine unverzichtbare Rolle. Ich glaube allerdings auch, dass die dunklen Kräfte wie repressive Regime, kriminelle Banden und militante Gruppen alles daran setzen werden, die Arbeit von Journalisten zu verhindern.

Joel Simon ist der geschäftsführende Direktor des weltweit agierenden Committee to Protect Journalists (CPJ). Die internationale Hilfsorganisation von Journalisten für Journalisten wurde 1981 gegründet und hat ihren Hauptsitz in New York. Das CPJ kämpft für die Pressefreiheit, in dem es sich für das Recht der Journalisten einsetzt, ohne Angst berichten zu können. Joel Simon schreibt als Medienexperte regelmäßig für die New York Times, die Washington Post, die Columbia Journalism Review und das World Policy Journal.

Das Interview führte Sandra Petersmann.
Redaktion: Thomas Latschan