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Berüchtigtes Ex-Folterzentrum wird der Öffentlichkeit zugänglich

Steffen Leidel14. März 2005

Die Marineschule ESMA war das größte Folterzentrum der argentinischen Militärdiktatur. Mehr als 20 Jahre nach dem Ende der Diktatur zieht das Militär aus. Ein Rundgang mit einem Überlebenden durch die Stätte des Terrors.

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Die ESMA an der Avenida del LibertadorBild: DW

Es ist ausgerechnet die dem argentinischen Helden der Unabhängigkeit, General San Martín, gewidmete Avenida del Libertador, die zu jenem Ort führt, der zu einem Symbol für Terror und Verbrechen an der Menschlichkeit geworden ist. Die ESMA (Escuela de Mecánica de la Armada Argentina) liegt nicht weit vom Stadtflughafen der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires entfernt. Das Areal der Marineschule ist 17 Hektar groß, insgesamt erheben sich 35 zum Teil schmucke, frisch geweißelte Gebäude. Dazwischen stehen stattliche Palmen und edle Nadelbäume auf sattgrünem Rasen. Stadtführer erzählen, dass ahnunglose Touristen gerne staunend fragen, was man denn nettes in diesen Gebäuden untergebracht habe.

Falsche Idylle

Die Antwort macht sie dann meist etwas verlegen. Von den mehr als 340 Folterzentren der argentinischen Militärdiktatur war die ESMA die größte. 5000 Menschen sollen dort zwischen 1976 und 1983 systematisch gequält und dann ermordet worden sein. Nur rund zweihundert kamen nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen mit dem Leben davon.

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Das Offizierskasino der ESMA. Im Keller wurde gefoltert, im zweiten Stock wohnten die Offiziere, im dritten schließen die HäftlingeBild: DW

Victor Basterra war vier Jahre und fünf Monate in der ESMA. Sechs Stunden hatte er 1984 im Prozess gegen die Junta-Mitglieder ausgesagt, in den folgenden zwanzig Jahren hat er seine Geschichte Schülern, Studenten, Journalisten, Politikern oder Menschenrechtlern aus der ganzen Welt erzählt. Er lernte, das erlebte Schrecken in nüchterne, knappe Sätze zu packen. Doch am Tatort selbst, auf dem Gelände der ESMA, ist es etwas anderes. "Wenn ich hier wieder stehe erscheinen Bilder auf den Mauern und Wänden von denjenigen mit denen ich eingesperrt war und die spurlos verschwanden. Ich höre ihre Schreie und ich bekomme Gänsehaut."

Militärdiktatur in Argentinien - Jorge Rafael Videla
Der ehemalige Junta-Chef: Jorge VidelaBild: AP

Für den 60-Jährigen ist die Rückkehr an den Schreckensort aber wichtig, um das Geschehene zu verarbeiten. Bis vor einem Jahr war das noch undenkbar. Das Militär bildete auch nach dem Ende der Dikatatur tausende Marineschüler auf dem Gelände aus, so als sei dort nichts passiert - Zivilpersonen hatten keinen Zutritt. Dann kam Präsident Nestor Kirchner und machte die Menschenrechtspolitik zu einem der Schwerpunkte seiner Amtszeit. Zum letztjährigen Jahrestag des Militärputsches am 24. März ordnete er an, einige Gebäude der ESMA zu räumen. Das Militär gehorchte missmutig und hängte nur widerwillig das Porträt von Ex-Junta-Chef Jorge Videla von den Wänden.

Herzstillstand im Folterkeller

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Victor Basterra im ehemaligen FolterkellerBild: DW

Victor besichtigte seitdem einige Male die ehemaligen Folterräume. Sie waren im dreistöckigen Offizierskasino untergebracht. Dorthin war Victor im August 1979 mit seiner Frau und seiner zwei Monate jungen Tocher in die ESMA gebracht worden. Männer in Zivil mit schweren Waffen drangen in die Wohnung ein, zogen ihren Opfern Kapuzen über den Kopf und brachten sie dann umgehend in die ESMA. Meist nutzten sie dafür gestohlene Autos der Marke Ford Falcon. "Selenio, Selenio", funkten sie dann in die Esma-Zentrale, das war der Code dafür, dass neue Häftlinge gebracht wurden. Basterra gehörte damals einer regimekritischen Gruppe an, die nach seinen Angaben jedoch auf die Anwendung von Gewalt verzichtet habe.

Seine Frau und seine Tocher wurden nach einer Woche freigelassen. Er dagegen blieb und wurde wie die meisten anderen in den "Sotano" geschafft, den Folterkeller. Dort gab es einen Raum, dessen Wände mit Eierkartons beklebt waren. "Die Schreie wurden dadurch aber trotzdem nicht abgedämpft", erzählt Victor. Meist drehten die Folterer das Radio auf volle Lautstärke. "Sie verpassten mir Elektroschock an allen sensiblen Körperteilen - an den Augen, Genitalien, Brustwarzen oder Zehnägeln. Zwei Mal blieb mein Herz stehen. Sie wollten Namen und Adressen von anderen Regimegegnern."

Lesen Sie im zweiten Teil, wie Victor Basterra wieder in Freiheit kam.

"Die Kapuze ist wie ein tragbarer Kerker"

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Die so genannte Capucha: Hier lagen die Häftlinge an Händen und Füßen gefesselt und mit einer Kapuze über dem KopfBild: DW

Nach der physischen Folter wurden die Häftlinge in der Regel in den dritten Stock gebracht, die so genannte Capucha. Sieben Monate lag er dort zusammen mit anderen Häftlingen auf stinkenden Schaumstoffmatratzen, mit einer Kapuze über dem Kopf und mit Eisenketten an Händen und Füßen gefesselt - 24 Stunden am Tag. Noch heute hat er deshalb Probleme mit dem Rücken. Nur ab und zu durfte er die Kapuze abnehmen. "Das war so richtig durchdacht, eine Kapuze ist wie ein tragbarer Kerker", sagt Victor. Irgendwann fiel er ins Delirium. Das Fleisch, dass er zu Essen bekam, rührte er nicht mehr. "Es roch und schmeckte so komisch. Ich dachte plötzlich, die geben uns Menschenfleisch zu essen." Einen Monat lang ernährte er sich von Orangen, die ihm andere Häftlinge heimlich zukommen ließen.

Warum er überlebte, weiß er selber nicht, die Frage stellt er sich auch nicht mehr. Vielleicht waren ja seine Kenntnisse als Fotograf die Rettung. Nach Monaten der Folter bekam Victor den Auftrag, von den Mitgliedern der Todesschwadronen Fotos zu machen. Die wurden von den Militärs für die Herstellung gefälschter Dokumente benötigt. Die Todesschwadronen nutzen bei ihren Aktionen nie ihre wahre Identität, um so keine nachvollziehbaren Spuren zu hinterlassen. Victor bewahrte die Fotos zwischen unbelichtetem Fotopapier auf. "Hätten die das mitbekommen, wäre das mein sofortiges Todesurteil gewesen."

Berüchtigte Folterknechte

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Bild von Miguel Angel Cavallo (Mitte) aus Heft mit Fotografien von Folterern der ESMABild: DW

Ab 1980 wurden die Haftbedingungen etwas gelockert, Victor durfte ab und zu seine Familie besuchen - so schmuggelte er die Fotos aus der Esma. Nach dem Ende der Diktatur wurden sie zusammen mit seiner Aussage abgedruckt. Darin finden sich auch Fotos von zwei der berüchtigsten Folterer der ESMA, Alfredo Astiz und Ricardo Miguel Cavallo. Cavallo war im Jahr 2000 in Mexiko verhaftet und dann nach Spanien ausgeliefert worden. Astiz sitzt in Untersuchungshaft.

"Die Militärs haben mir den Mut genommen, langfristig für mein Leben Projekte zu planen. Vier Jahre lang wusste ich nicht, ob ich die nächste halbe Stunde überleben würde." Nach seiner Freilassung versuchte er sich wieder als Fotograf und eröffnete ein Geschäft, der Erfolg war mäßig. "Ich hatte einfach keine Kraft mehr, die Dinge mit voller Energie zu tun." Viktor brauchte lange, um sich wieder frei zu fühlen: Die Todesschwadronen der ESMA waren sogar noch nach dem Ende der Diktatur aktiv. Sie statteten Victor Hausbesuche ab, bewachten und verfolgten ihn bis ins Jahr 1984.

Führungen für Schüler und Studenten

Rachegedanken hegt Viktor nicht. Doch zusammen mit anderen Überlebenden fordert er Gerechtigkeit. "Alle die in der ESMA zu der Zeit waren, ob Offiziere oder Schüler, wussten von den Folterungen." Sie müssten nun zur Rechenschaft vor Gericht gezogen werden. Das Militär wird im Juli und Dezember weitere Gebäude räumen. Noch für März waren erste Führungen für Schulklassen und Studenten geplant. Dann will auch Victor wieder dabei sein.