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"Die Bilder des Schreckens überfallen uns"

5. Juni 2011

Erneut wurde an einem Bahnhof ein Mann brutal zu Tode geprügelt. Solche Gewalttaten scheinen sich zu häufen. Doch der Eindruck täuscht, sagt der Kriminologe Christian Pfeiffer.

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Jugendliche hinter einem vergitterten Fenster in der Jugendarrestanstalt in Berlin. (Foto: dpa)
Junge Männer im GefängnisBild: Picture-Alliance / Tagesspiegel

In Rostock-Warnemünde ist ein Mann zu Tode geschlagen worden. Der Tatort: ein Bahnhof. Das Szenario erinnert an die dramatischen Vorfälle in München und Berlin in den vergangenen Monaten. Werden deutsche Jugendliche immer gefährlicher? Muss die Justiz härter durchgreifen? Ein Gespräch mit dem Direktor des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer.

DW-WORLD: Herr Pfeiffer, gerade gab es erneut an einem Bahnhof einen Vorfall, bei dem ein Mann zu Tode geprügelt wurde. Diese Ereignisse scheinen sich zu häufen. Viele befürchten deshalb, dass die Gewaltbereitschaft besonders bei jungen Menschen gestiegen ist. Wie ist die Situation in Deutschland?

Der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), Christian Pfeiffer (Foto: dpa)
Christian PfeifferBild: picture alliance/dpa

Christian Pfeiffer: Nehmen wir zum Beispiel die Tötungsdelikte. Wir hatten 1999 den höchsten Stand mit 1006 Menschen, die vorsätzlich getötet worden sind. Im letzten Jahr waren es 601. Das sind 40 Prozent weniger. Aber die Sichtbarkeit solcher Vorfälle hat sich drastisch verändert. Heute, wenn es sich im Umfeld von Kameras ereignet, stehen diese Bilder von prügelnden, brutal zuschlagenden Männern der Polizei zur Verfügung und meistens auch kurze Zeit später der Tagesschau und allen, die es sehen wollen. Die gefühlte Kriminalitätstemperatur wird dadurch massiv beeinflusst. Wir können uns gegen diese Bilder des Schreckens nicht wehren. Sie überfallen uns und wecken bei uns den Eindruck, alles werde schlimmer, obwohl objektiv kein Zweifel daran besteht, dass die Gewalt junger Menschen rückläufig ist.

Viele haben durch die Bilder den Eindruck, dass die Vorfälle in den letzten Jahren brutaler geworden sind. Ist die Brutalität gestiegen?

Man sagt heute gerne: Wenn früher jemand am Boden gelegen ist, haben die Leute aufgehört zu schlagen, aber heute wird brutal mit den Füßen auf ihn eingetreten. Wenn das so wäre, dann müssten die Tötungsdelikte zugenommen haben. Aber gerade die sind beispielsweise bei den 14 bis 21jährigen Menschen im letzten Jahr um 14 Prozent zurückgegangen.

Welche Gründe gibt es dafür, dass die Zahl der jugendlichen Gewaltdelikte rückläufig ist?

Es gibt eine Reihe von Faktoren, die sich wunderbar auswirken. Erstens nimmt die Neuproduktion von Jugendgewalt durch prügelnde Eltern ab. Zweitens haben wir eine verbesserte Integration von frustrierten, jungen Migranten, die früher Zuschauer waren und die nun immer öfter den Satz unterschreiben können, jeder ist seines Glückes Schmied. Junge Aussiedler sind ein schönes Beispiel. Deren Gewaltrate ist deutlich rückläufig im Vergleich zu Mitte der 90er Jahre, weil sie bildungsmäßig heute viel besser integriert werden. Der dritte Punkt ist die Polizei. Sie hat eine Aufklärungsquote wie nie zuvor. Das heißt, das Risiko des Täters, erwischt zu werden, ist so hoch wie nie zuvor - und das schreckt ab.

Wie erklären Sie sich, dass trotz dieser positiven Zahlen in der Bevölkerung genau das gegenteilige Bild herrscht, als ob die Gewaltdelikte schlimmer werden würden?

Ein Grund ist die Visualisierung der Gewalt. Wir sehen es in der Tagesschau, wenn ein Jugendlicher in der U-Bahn brutal zuschlägt. Das vermittelt den Eindruck, dass die Gewalt steigt. Auch die Politik trägt ihren Teil dazu bei. Es ist im Augenblick populär, härtere Strafen zu fordern. 71 Prozent sind gegenwärtig für die Verschärfung des Jugendstrafrechts. Die Botschaft, die Jugendgewalt gehe zurück, ist dann nicht unbedingt willkommen. Von Bundesminister Friedrich wurden diese positiven Zahlen auf der letzten Pressekonferenz zum Jahr 2010 überhaupt nicht hervorgehoben. Warum? Weil seine Koalition gerade einen Gesetzesentwurf zur Verschärfung des Jugendstrafrechts vorbereitet. Der lässt sich weniger gut durchbringen, wenn man die gute Botschaft vermittelt, dass die Jugendgewalt seit einigen Jahren rückläufig ist. Ich sehe mit Ärger, welchen Anteil die Politik an der Falschdarstellung, hat, dass alles immer schlimmer würde.

Ein Wahlkampfplakat der CSU. Das Plakat ziegt eine Gewalttat von Jugendlichen in der Münchner U-Bahn. (Foto: AP)
Jugendkriminalität ist ein beliebtes Thema im WahlkampfBild: AP

Wie sehen Sie die Pläne der Bundesregierung, das Jugendstrafrecht zu verschärfen und zum Beispiel die Höchststrafe für Mord auf 15 Jahre anzuheben?

Das ist ein völliger Unsinn. Es kostet nur Geld und erhöht die Rückfallquoten, weil das Hintergitterbringen immer mit hohen Rückfallwahrscheinlichkeiten verknüpft ist. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass man durch eine Verschärfung des Strafrechts die Abschreckung erhöht. Die Abschreckung erhöht man durch die Erhöhung des Risikos, erwischt zu werden. Die Leute beginnen sich erst dann zu fürchten, wenn sie glauben, dass man sie schnappt. Also ist eine Stärkung der Polizei wichtig, zum Beispiel eben kein Abbau von Stellen. Ich bin für einen starken Staat durch eine starke Polizei, aber härtere Strafen brauchen wir absolut nicht.

Welche anderen Maßnahmen sehen Sie, um den Trend in Richtung einer sinkenden Jugendkriminalität weiter voranzutreiben?

Ganztagsschule halte ich für ein gutes Konzept. Der Landkreis Emsland in Niedersachsen hat die niedrigste Jugendkriminalität in ganz Deutschland. Das Geheimnis ist, dass dort die meisten Schulen Ganztagsschulen sind und alle über Schulsozialarbeiter verfügen. Dort findet nachmittags statt, was ich "Lust auf Leben wecken" nenne, zum Beispiel durch Sport oder Musikveranstaltungen. Außerdem haben wir in dem Landkreis eine ausgezeichnete katholische Jugendsozialarbeit. Wir müssen uns um die Randgruppen kümmern, wir müssen den Kindern und Jugendlichen Mut machen, dass sie ihr Leben gut in den Griff bekommen können. In diesem Landkreis weiß jeder Jugendliche, der eine Hauptschule besucht: Wenn ich den Abschluss schaffe, dann kümmern die sich darum, dass ich meine Lehrstelle finde. Jeder wird untergebracht. Dadurch steigt die Schulmotivation. Der Landkreis Emsland ist für uns das Musterbeispiel dafür, wie man gute Jugendarbeit macht. Das zu intensivieren ist der richtige Weg und nicht die Verschärfung des Jugendstrafrechts.

Christian Pfeiffer war von 2000 bis 2003 SPD-Justizminister des Landes Niedersachsen und leitet derzeit das kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN).

Das Gespräch führte Eva Huber
Redaktion: Arne Lichtenberg