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Abschied vom Homo Oeconomicus

2. März 2005

Axel Ockenfels hat als erster Ökonom seit langer Zeit 2005 den Leibniz-Preis bekommen. Mit DW-WORLD redete er darüber, warum der "Homo Oeconomicus" ausgedient hat und was Fairness mit Wirtschaft zu tun hat.

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Leibniz-Preisträger 2005: Prof. Dr. Axel OckenfelsBild: Wolfgang Filser


DW-WORLD: Die klassischen Theorien der Wirtschaftswissenschaften gehen davon aus, dass der Mensch rational und egoistisch ist und für sich nur das Beste will. Ist das inzwischen nicht mehr so - oder warum erforschen Sie so intensiv das Verhalten von Menschen in ökonomischen Entscheidungssituationen?

Axel Ockenfels: Die Hypothese, dass der Mensch vor allem egoistisch und rational sei, ist eine Hypothese der Ökonomen, die lange Zeit nie getestet worden ist. Aber der Mensch war vermutlich nie so rational und so eigennützig, wie der Ökonom ihn gerne hätte in seinen Modellen. Insofern hat sich der Mensch nicht geändert, sondern die Wirtschaftswissenschaft hat sich geändert, indem sie diesen neuen Ideen und neuen empirischen Befunden Rechnung trägt und den "Homo Oeconomicus" langsam verabschiedet. Denn der "Homo Oeconomicus" ist eine Fiktion, die so nicht existiert.

Und was macht der moderne Mensch anders? Will er etwa nicht mehr das meiste für sich?

Die Menschen sind immer noch egoistisch, aber sie haben ihren eigenen Egoismus. Sie schauen zum Beispiel nicht nur auf das, was sie unterm Strich bekommen, sondern sie schauen auch darauf, was die anderen bekommen und welchen Status sie - relativ gesehen - in einer bestimmten Vergleichsgruppe haben.

Wir wissen eindeutig, dass Menschen durchaus bereit sind, andere zu bestrafen, die sich unfair verhalten - selbst wenn es sie selbst eine ganze Menge kostet. In Verhandlungssituationen zum Beispiel spielt Fairness eine große Rolle. In solchen Situationen sollten sich selbst Leute, die eigentlich eigennützig und egoistisch sind, fair verhalten. Und Leute, die eigentlich fair und altruistisch sind, sollten sich durchaus egoistisch verhalten.

Da aber niemand über seinen Schatten springen kann: Kann man solches Verhalten lernen?

Ja, man kann lernen, wie man gut verhandelt. Die Verhandlungstheorie sagt Ihnen, wie man das geschickt und clever macht - wobei auch diese Theorie nicht perfekt funktioniert.

Nehmen wir zum Beispiel das Ultimatum-Spiel: Sie haben 100 Euro zu vergeben, und Sie müssen entscheiden, wieviel Sie mir davon abgeben; ich sage "Ja" oder "Nein". "Ja" heißt: Wir beide bekommen anteilig Geld. "Nein" heißt: Wir bekommen beide nichts. Wenn wir also erfolgreich verhandeln, stellen wir uns beide besser. Die Frage ist nur: Wie verteilen wir die Effizienzgewinne?

Die klassische Wirtschaftstheorie macht eine klare Prognose: Die sagt, Sie geben mir 1 Euro – denn das ist das, was "Homo Oeconomicus" tun würde unter der Annahme "Mehr Geld ist besser als weniger Geld". Wenn Sie mir 1 Euro geben und ich annehme, dann bekomme ich 1 Euro. Wenn ich ablehne, bekomme ich nichts. Und da 1 Euro besser ist als nichts, nehme ich an. Da Sie "Homo Oeconomicus" sind, antizipieren Sie dieses Verhalten und dürfen sich darauf freuen, dass Sie fast den gesamten Kuchen kriegen und ich fast nichts.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie das Ultimatum-Spiel ausgeht und warum Theorie und Praxis manchmal weit auseinanderklaffen.

Wenn ich in dieser Situation Sie wäre, dann würde ich aber doch denken: "Den läppischen 1 Euro, den die mir abgeben will, kann sie sich an den Hut stecken!"

Ja, aber das ist nicht egoistisch! Damit stoßen Sie an die Grenzen einer ganz grundlegenden Hypothese der Ökonomik: "Mehr Geld ist besser als weniger Geld". Wenn Sie sagen, "ich verzichte auf den 1 Euro", das heißt das, Sie schmeißen Geld weg. Das ist ein Verstoß gegen die Minimum-Hypothese, die eigentlich überall gilt.

Aber Ihre Intuition ist völlig richtig: Wenn wir das Ultimatum-Spiel mit echtem Geld in unserem Labor spielen, dann gibt fast nie jemand nur 1 Euro ab. Die meisten geben ungefähr die Hälfte, also 50 Euro. Wenn Sie zu wenig abgeben wollen, dann wird typischerweise abgelehnt. Das ist ein ganz robustes Verhalten – das passiert in Deutschland genauso wie in den USA oder anderen Ländern. Sie können das Spiel auch 100 Mal wiederholen, das Ergebnis ist immer dasselbe: Die Leute haben eine Unfairness-Aversion. Sie wollen den anderen dafür bestrafen, dass er unfair war.

In so einer Verhandlungssituation sollten Sie selbst als Egoist so tun, als ob Sie fair und nett sind, damit Sie nicht Gefahr laufen, bestraft zu werden. Sie sollten dem anderen die Hälfte abgeben – denn mit der hälftigen Abgabe maximieren Sie Ihren Gewinn. Wenn Sie weniger als die Hälfte abgeben würden, wäre die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung so hoch, dass Sie sich am Ende schlechter stellen. Die Theorie vom "Homo Oeconomicus" funktioniert hier also überhaupt nicht.

Die Theorie vom "Homo Oeconomicus" wurde aber nicht aus der Luft gegriffen. Kann es sein, dass die Leute vor 150 Jahren anders reagiert haben – oder hätten?

Ich glaube, die Menschen vor 150 Jahren waren nicht anders als heute. Nur die Methoden, mit denen wir ihr Verhalten testen, haben sich verfeinert. Ich glaube, es ist wirklich die Theorie, die jetzt sehr spät auf etwas reagiert, was schon seit Hunderten von Jahren Tatsache ist: dass Menschen nicht nur Egoisten sind, sondern sich eben auch nach dem Prinzip "Wie du mir, so ich dir" verhalten und auf Fairness und Status in einer Referenzgruppe achten. Das ist ganz wichtig.

Viele Entscheidungen in der realen Wirtschaftspraxis basieren aber auf "Homo Oeconomicus". Wenn die Theorie von etwas anderem ausgeht als dem, was die Leute tatsächlich tun, dann kann es aber zu Fehlentscheidungen und Kollisionen kommen …

Das ist ein guter Punkt – und deshalb glaube ich, dass die experimentelle Wirtschaftsforschung eine extrem wichtige Disziplin ist, die man auch den Studenten frühzeitig nahebringen muss. Es ist wichtig, die Theorie zu verstehen - wie man rationalerweise auf ein Marmeladenglas bietet, wie rationalerweise die Anreize in einer Verhandlungssituation sind -, aber es ist auch wichtig zu verstehen, wie sich echte Menschen verhalten.

Dann kann man die Theorie und die Empirie zusammenführen und vernünftige Schlüsse ziehen. Ich glaube, dass einige Lehrbücher, etwa in der Ökonomie, die empirisch-experimentelle Seite völlig auslassen und sich allein auf die Theorie beschränken, die man sich im Lehnstuhl im Elfenbeinturm überlegt hat. Das kann zu völlig falschen Schlüssen und Handlungsempfehlungen führen. Darin sehe ich eine große Gefahr.

Und wie wird damit umgegangen?

Es hat in den letzten 15, 20 Jahren eine Revolution in der Ökonomik stattgefunden. Es gibt, glaube ich, kein Land auf der Welt, das so viele Experimentallabors hat, wie Deutschland. Aber es wird wohl noch eine Generation von Professoren brauchen, bis es sich überall herumgesprochen hat.

Die Fragen stellte Ingun Arnold

Professor Axel Ockenfels (36) hat 2005 als erster Wirtschaftswissenschaftler seit 17 Jahren den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis erhalten. Der Preis ist mit 1,5 Millionen Euro dotiert. Ockenfels studierte in Bonn bei Professor Reinhard Selten, dem ersten und einzigen deutschen Nobelpreisträger für Ökonomie. Nach seiner Arbeit in Magdeburg und Jena lehrt Ockenfels heute an der Universität Köln.