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Junta-Mitglieder wegen Kinderraubs vor Gericht

1. März 2011

In Argentinien hat der erste Prozess wegen des systematischen Raubs von Kindern während der Militärdiktatur begonnen. Vor Gericht stehen die ehemaligen Machthaber Videla und Bignone.

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Der frühere argentinische Diktator Jorge Rafael Videla muss sich vor Gericht wegen systematischen Kinderraubs verantworten (Foto: AP)
Ex-Diktator Jorge Rafael Videla ist des systematischen Kinderraubs angeklagtBild: AP

Zusammen mit den beiden früheren Diktatoren Jorge Videla und Reynaldo Bignone müssen sich seit Montag (28.02.2011) sechs weitere ehemalige Junta-Offiziere vor Gericht verantworten. Sie sollen oppositionellen Frauen nach der Niederkunft ihre Babys geraubt und diese in Familien von Militärangehörigen gegeben haben. Die Anklage lautet auf Entzug, Entführung und Verschwindenlassen von Minderjährigen sowie Austausch ihrer Identitäten. Zwei Mitschuldige an diesen Verbrechen fehlten am Montag bei der Eröffnung des Verfahrens: die inzwischen verstorbenen Junta-Mitglieder Emilio Massera und Cristino Nikolaides.

Der 85-jährige Videla war bereits im Dezember 2010 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Videla hatte 1976 einen Putsch mitangeführt und stand bis 1981 an der Spitze der Militärjunta, die noch bis 1983 in Argentinien herrschte. Während seiner Herrschaft wurden 30.000 Menschen ermordet oder verschwanden spurlos. Der letzte Präsident der Militärdiktatur war Reynaldo Bignone. Auch er stand bereits im vergangenen Jahr vor Gericht: Er wurde der Beteiligung an Mord, Folter und Entführung in 56 Fällen für schuldig befunden und zu 25 Jahren Haft verurteilt.

Reynaldo Bignone war der letzte Militärmachthaber Argentiniens bis zum Ende der Diktatur 1983 (Foto: AP)
Der letzte Diktator: Reynaldo Bignone soll mitverantwortlich für die Entführung von Säuglingen seinBild: AP

Hilfsorganisationen zufolge wurden während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 rund 500 Kinder in Geheimgefängnissen oder Folterzentren gestohlen, weil ihre Eltern als Dissidenten in Ungnade gefallen waren. Ihre wahre Identität kennen heute erst etwa hundert Betroffene. Die Mütter wurden damals während der Schwangerschaft nur notdürftig am Leben gehalten. Während der Geburt wurde ihnen eine Haube über den Kopf gezogen, damit sie ihre Babys nicht sehen konnten. Später wurden die Frauen getötet, viele wurden nur betäubt und nackt aus Militärflugzeugen über dem Meer abgeworfen.

Gestohlene Kindheit

Vor dem Gericht in Buenos Aires werden jetzt 34 Fälle von geraubten Babys verhandelt. Dazu zählt u.a. der Abgeordnete Juan Cabandié, der im März 1978 in dem berüchtigten Folterzentrum der Mechanikerschule der Marine (ESMA) zur Welt gekommen ist. Zwei Wochen nach der Geburt wurde der Säugling von seiner Mutter getrennt und von einem Angehörigen der Bundespolizei adoptiert, wo er mit einer falschen Identität aufwuchs. Im Alter von 25 Jahren erfuhr er die wahre Geschichte seiner Herkunft. Sein Adoptivvater wurde wegen Kindesraubes angeklagt.

Fotos von Verschwundenen aus der Zeit der Militärdiktatur (1976 - 1983) (Foto: DW/V. Eglau)
30.000 Personen sind unter der Militärdiktatur in Argentinien verschwundenBild: DW/ Victoria Eglau

Zu den jetzt verhandelten Fällen gehört ebenfalls das Schicksal von Victoria Donda, der jüngsten Abgeordneten im argentinischen Parlament. Auch sie kam1977 in der ESMA zur Welt, wo ihre Mutter kurze Zeit später ermordet wurde. Victoria kam in die Obhut eines Militärangehörigen, der in dem Folterzentrum arbeitete. Ihr Onkel väterlicherseits, Leutnant zur See Adolfo Miguel Donda, ebenfalls an den Folterungen in der ESMA beteiligt, vermittelte die "Adoption" damals. Victoria Donda erfuhr 2004 von ihrer echten Identität. Ihr Adoptivvater steht ebenfalls vor Gericht. Sie ist die 78. Enkelin, deren Identität die Menschenrechtsgruppe "Großmütter der Plaza de Mayo" aufdecken konnten. Victoria Donda hat ihre Geschichte in einem autobiographischen Buch verarbeitet, das 2010 unter dem Titel "Mein Name ist Victoria" auch auf deutsch erschienen ist.

"Die einzigen Verschwundenen, die noch leben"

Unter den ebenfalls inzwischen aufgeklärten Fällen befindet sich auch der der Enkelin des argentinischen Dichters Juan Gelman. Seine schwangere Schwiegertochter war 1976 im Rahmen der Operation Cóndor entführt und nach Uruguay verschleppt worden, sie gehört zu den 30.000 Verschwundenen der Diktatur. Diese Operation wurde vom Militär verharmlosend als "Prozess der Nationalen Reorganisation" bezeichnet. Ihre Tochter Macarena wurde vor einigen Jahren in Uruguay identifiziert.

Die Mechanikerschule der Marine, ESMA, diente der Militärjunta als Folterkeller (Foto: DW/S. Leidel)
In der Folterkellern der ESMA kamen zahlreiche Kinder zur Welt, die ihren Müttern später geraubt wurdenBild: DW

Unter den Nebenklägern in dem jetzt begonnenen Prozess ist auch die Präsidentin der Vereinigung der Großmütter der Plaza de Mayo, Estela de Carlotto, die 2003 mit dem Menschenrechtspreis der Vereinten Nationen ausgezeichnet worden ist. Ihr Enkelkind kam 1978 in Gefangenschaft zur Welt, sowohl von ihr als auch von ihrer Tochter Laura Estela fehlt seitdem jede Spur. "Sie sind die einzigen Verschwundenen, die noch leben", sagte Estela de Carlotto bei Prozessbeginn über die geraubten Kinder.

Den systematischen Raub von Babys während der Militärdiktatur bezeichnete Staatsanwalt Federico Delgado zum Prozessauftakt als "dunkelstes Kapitel der argentinischen Geschichte". Zu dem Prozess, der noch bis zum Jahresende andauern soll, sind rund 80 Zeugen geladen.

Autorin: Mirjam Gehrke
Redakton: Sven Töniges

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