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Chile ein Jahr nach dem Beben

28. Februar 2011

Das Jahrhundertbeben Ende Februar 2010 und der folgende Tsunami radierten das südchilenische Fischerörtchen Dichato fast aus - ein Jahr nach der Katastophe wartet das Dorf darauf, dass der Wiederaufbau endlich beginnt.

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Das Aufnahmelager 'Nuevo Amanecer' (Neuer Morgen)nahe dem südchilenischen Dorf Dichato, Aufnahme vom 26.02.2011 (Foto: pa)
Ein Jahr nach dem Beben leben die meisten Bewohner Dichatos in NotunterkünftenBild: picture alliance/dpa

Der Strand von Dichato an einem Sommertag im Februar 2011. Besucher in Bikinis und Badehosen genießen den Blick auf die hufeisenförmige Bucht. Auf der Wasseroberfläche glitzern Sonnenstrahlen, ein paar Fischerboote werden von den Wellen sanft hin und hergeschaukelt. Vor einem Jahr, am 27. Februar 2010, trat das Meer, das jetzt so ruhig daliegt, aus der Bucht. Nach dem Erdbeben um 3.34 Uhr rollten über den Dreitausend-Seelen-Ort Dichato vier gewaltige Flutwellen hinweg. Die meisten Einwohner konnten sich auf den Hügeln in Sicherheit bringen, aber 16 Menschen starben. Das bei Urlaubern beliebte Fischerdorf wurde zu mehr als zwei Dritteln zerstört.

Taucher José Daniel Baeza 'Nano' mit seinem wiedergefundenen Boot, Februar 2011 (Foto: DW/Victoria Eglau)
Taucher José Daniel "Nano" Baeza mit seinem wiedergefundenen BootBild: DW

"Das Meer hat uns übel mitgespielt. Ich liebe mein Dorf, es war schrecklich, Dichato zerstört zu sehen. Als es hell wurde, war überall Wasser, die Häuser verschwunden", erinnert sich Rosario Saez an den Tag nach dem Tsunami. Die Frau Mitte vierzig steht auf ihrem Grundstück - knapp 30 Meter hinter dem Strand. Die Trümmer ihres Holzhauses sind weggeräumt. Nur die Fundamente erinnern daran, dass hier einmal eine Familie wohnte. Hinter dem Strand ist vom Badeort Dichato kaum etwas stehengeblieben. Zwar ist die Uferstraße rechtzeitig zur Badesaison 2011 teilweise instandgesetzt worden, sodass Touristen dort flanieren können. Im kleinen Zentrum haben ein paar Geschäfte und Restaurants den Betrieb wieder aufgenommen. Aber ringsherum haben die Wassermassen Ödnis und Leere hinterlassen.

Von Wiederaufbau kaum etwas zu sehen

"850 Häuser wurden in Dichato zerstört, und 150 weitere stark beschädigt. Das heißt, tausend Häuser sind nicht mehr bewohnbar", berichtet Jaime Rivera. In Dichato gibt es keinen Bürgermeister, das Dorf gehört zur benachbarten Kleinstadt Tomé. Rivera ist der städtische Beauftragte für Dichato. "Nach dem Tsunami gab es eine erste Phase, in der die Katastrophenhilfe im Vordergrund stand: Essen, Kleidung, Zelte. In der zweiten Phase wurden die obdachlosen Familien in Notunterkünften einquartiert. Jetzt warten wir auf die dritte Phase: darauf, dass Dichato wieder aufgebaut wird." Der Wiederaufbau des Badeorts hat Ende vergangenen Jahres offiziell begonnen, aber bisher ist davon kaum etwas zu sehen. Insgesamt wurden im chilenischen Erdbeben- und Tsunami-Gebiet fast 300.000 Behausungen zerstört oder stark beschädigt. Die Regierung von Präsident Sebastián Piñera will 220.000 Bauzuschüsse zahlen.

Das südchilenische Dorf Dichato nach dem Beben und vier Flutwellen, Aufnahme vom 4. März 2010 (Foto: AP)
"Das Meer hat uns übel mitgespielt": Dichato nach dem Beben und vier FlutwellenBild: AP

Walter Imilan ist Stadtplaner und hat an der Hochschule Universidad de Chile ein "Observatorium für den Wiederaufbau" eingerichtet. Er erklärt, dass viele Betroffene bereits Geld vom Staat für den Bau eines neuen Heims erhalten hätten, aber bislang kein Wohnungsbau in großem Stil begonnen habe. "Es gibt Kommunen, wo Tausende von Finanzhilfen ausgezahlt wurden, aber noch kein einziges neues Gebäude steht", erzählt Imilan. Das habe mehrere Gründe. Zum einen sei in vielen Fällen umstritten, wo gebaut werden soll. Und zum anderen sind die staatlichen Hilfen so niedrig, dass der Wohnungsbau für private Firmen wenig profitabel sei. Straßen und Brücken, Strom und Wassernetze seien ein Jahr nach der Katastrophe weitgehend instandgesetzt, berichtet der Stadtplaner, aber neben dem Wohnungsmangel bleibe die hohe Arbeitslosigkeit im Erdbeben-Gebiet ein großes Problem.

Neue Boote für die Fischer

Rosario Saez und ihr Mann José Daniel Baeza aus Dichato hatten Glück im Unglück: Nicht nur trotzte ihr zweites Haus dem Tsunami, auch fand José Daniel, ein Taucher, eines seiner beiden Boote wieder. Der Chilene lebt vom Verkauf von Schalen- und Krustentieren, die er vom Meeresboden holt. Wenige Monate nach der Katastrophe fuhr er wieder auf den Pazifik hinaus: "Ich hatte keine Ahnung, wie es in der Bucht aussehen würde. Hab dann ganz vorsichtig wieder mit dem Tauchen angefangen. Und eigentlich war alles wie vorher." Tausende anderer Fischer und Taucher an der südchilenischen Küste verdienten nach dem Tsunami nichts mehr, weil ihre Boote weg waren. Nach und nach fangen sie wieder an zu arbeiten. Das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen spenden Boote, und auch Unternehmen und Regierung helfen bei der Anschaffung.

Der Taucher 'Nano', bevor er auf dem Meeresboden nach Muscheln taucht (Foto: Victoria Eglau /DW)
Taucher Nano: Wenigstens auf dem Meeresboden war alles wie vorherBild: DW

Am Ortseingang zu Dichato befindet sich das größte Auffanglager des chilenischen Erdbeben- und Tsunami-Gebiets, die "Villa El Molino". Rund 1800 Menschen leben hier in je 18 Quadratmeter großen, genormten Holzhütten. Macarena Vergara, Patricio Ruiz und ihre vier Kinder sitzen gerade beim Essen. Ihr durch den Tsunami zerstörtes Haus stand im Zentrum von Dichato. In der Notunterkunft ist nur Platz für die Kochnische und einen großen Tisch. Hätte die sechsköpfige Familie nicht zwei fensterlose Verschläge angebaut, gäbe es keinen Ort zum Schlafen. Die Stimmung sei schlecht im Auffanglager, erzählt Macarena. "Ein Dorf wurde fast vollständig ausradiert. Und die Regierung weiß nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen soll. Uns Opfern wird signalisiert: du bist hingefallen, steh allein wieder auf."

Schweißmaschine gesucht

Es gebe wenige staatliche Finanzhilfen für die Opfer, klagt Macarena, sie müssten sogar den Strom selbst bezahlen. "Den Fischern wird geholfen. Nicht allen von ihnen, aber den meisten. Aber was passiert mit den Handwerkern, den Näherinnen, den Forstarbeitern - den Leuten, deren Werkzeuge fortgeschwemmt wurden?" Patricio ist Schweißer. Weil er durch den Tsunami seine Maschine verlor, bekommt er nur selten Arbeit. Wie lange Macarena, Patricio und ihre Kinder noch in der Enge der Notunterkunft leben müssen, wissen sie nicht. Auf ihr Grundstück nahe dem Strand wollen sie nicht zurück. Eine Tochter hat seit dem Tsunami panische Angst vor dem Meer. Wo und wann die Familie bauen kann, und ob der Zuschuss vom Staat ausreichen wird - all das steht noch in den Sternen.

Autorin: Victoria Eglau, zurzeit Dichato

Redaktion: Sven Töniges