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"Unzufriedenheit ja, Revolution nein"

24. Februar 2011

Vereinzelt kommt es in China zu Protesten gegen die Regierung. Doch wirklich übergesprungen ist der "arabische Funke" nicht. Warum? Darüber sprach DW-WORLD.DE mit Adrienne Woltersdorf, Leiterin der China-Redaktion.

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Adrienne Woltersdorf, Leiterin der chinesischen Redaktion der Deutschen Welle (Foto: DW)
Adrienne Woltersdorf, Leiterin der chinesischen Redaktion der Deutschen WelleBild: M. Urbach

DW-WORLD.DE: Frau Woltersdorf, wie groß ist unter chinesischen Jugendlichen die Unzufriedenheit? Ist sie vergleichbar mit der in Nordafrika und der arabischen Welt?

Adrienne Woltersdorf: Die Unzufriedenheit ist durchaus vergleichbar, wenn auch die Faktoren etwas anders sind. Es gibt mittlerweile eine sehr gut ausgebildete Mittelschicht in China, die sich wünscht, bessere Perspektiven zu haben. Vor allem im Job. Wir beobachten in China derzeit eine regelrechte Jung-Akademiker-Arbeitslosigkeit. Und umgekehrt sehen wir, dass diejenigen Akademiker, die in Lohn und Brot stehen, wesentlich weniger verdienen und nicht mehr die gleichen Wohlstandsperspektiven haben wie ihre Eltern. Das ist etwas, was chinesische Jugendliche durchaus bedrückt. Gleichzeitig gibt es noch das völlig kontrollierte Internet, das Bewusstsein, dass es keine Meinungsfreiheit gibt. Auch das sorgt immer wieder für großen Unmut in China. Es gibt durchaus gesellschaftliche Parallelen zwischen China und Nordafrika. Ein ganz wichtiger Unterschied ist aber, dass das chinesische Regime doch noch deutlich mehr Vertrauen in der Bevölkerung genießt als die Regime in Tunesien, Ägypten oder Libyen.

Das chinesische Internet ist sehr stark kontrolliert. Gibt es in China dennoch wie in den arabischen Staaten so etwas wie eine Facebook-Generation?

Es gibt keine Facebook-Generation in China, weil es kein Facebook gibt. Aber es gibt durchaus eine Internet-Generation. Das Internet in China ist zwar noch relativ jung, hat sich als Medium aber schlagartig durchgesetzt. Es gibt mittlerweile an die 480 Millionen User. Und vor allem gibt es Mikro-Blogs, die so funktionieren wie unser westliches Twitter. Sie sind mittlerweile zum Kommunikationsmittel Nummer Eins geworden. Das ist auch der einzige Kommunikationskanal, der Dissidenten und Aktivisten im völlig kontrollierten chinesischen Medienstaat geblieben ist. Es ist also eine sehr wichtige Möglichkeit, wie Menschen überhaupt ihre Unzufriedenheit austauschen und in Kontakt miteinander treten können. Mit den Austausch- oder Abstimmungs-Möglichkeiten, die beispielsweise in Ägypten oder jetzt vielleicht auch in Libyen vorhanden sind, ist es aber überhaupt nicht zu vergleichen.

Aber die Ereignisse in der arabischen Welt werden wahrgenommen in China. Dazu kommt die Unzufriedenheit der jungen Generation, die Sie angesprochen haben. Reicht das, um auch dort Proteste und Demonstrationen anzufeuern?

Nein, es wird nicht reichen. Es gab zwar den Aufruf, sich an den kommenden Wochenenden in verschiedenen chinesischen Städten zu versammeln und einen "Jasminblüten-Marsch" zu veranstalten, aber von außen betrachtet kann man nur sagen: Potenzial zum Aufflammen hat das wirklich nicht. Denn schon bei den ersten derartigen Demonstrationen am vergangenen Wochenende waren mehr Polizisten und Journalisten vor Ort als Teilnehmer. Was die Überwachung anbetrifft: Da ist die chinesische Führung den Regimen in Nordafrika haushoch überlegen, man hat die Bevölkerung sehr unter Kontrolle, nicht nur durch die Medien, sondern auch dank eines sehr ausgeprägten Sicherheitsapparates. Und es gibt noch einen ganz wichtigen Unterschied zu Nordafrika: In China gibt es keinen Sender wie Al Dschasira. Es gibt kein ausländisches Medium - leider auch nicht die Deutsche Welle – das Informationen beispielsweise über die Unzufriedenheit im ganzen Land verbreiten könnte. Und so haben viele Menschen in China immer wieder das Gefühl, dass sie in ihrem Umfeld zwar von Gleichgesinnten umgeben sind. Aber sie wissen nicht, wie die Stimmung im Rest der Volksrepublik ist.

Es gibt ja noch die Ereignisse von 1989, die Proteste auf dem Tiananmen-Platz, die im wahrsten Sinne des Wortes von Panzern niedergewalzt wurden. Der libysche Staatschef Gaddafi hat diese Niederschlagung der Demokratiebewegung jetzt – in Anführungszeichen – sogar als "Vorbild" genannt und gesagt, wenn die Proteste in Libyen nicht aufhörten, dann würde es dort eine vergleichbare Situation geben. Wie sehr wirken denn die Ereignisse von damals heute noch in der chinesischen Bevölkerung nach?

Durchaus sehr stark, denn diese "Generation Tiananmen" hat damals eine schlimme Niederlage erlitten und musste schockiert mit ansehen, dass die eigene Armee bereit war, auf das Volk zu schießen. Heute sind die Menschen der "Generation 89" selbst Eltern, die ihren Kindern gerade ganz besonders einimpfen, sich in ihren Protesten nicht so weit zu exponieren. Sie tun das aus ihrer Erfahrung heraus. Sie haben selbst erlebt, dass das Regime auch vor schlimmster Gewaltanwendung nicht zurückschreckt. In Nordafrika auf der anderen Seite haben wir jetzt beobachten können, dass das Militär lieber desertiert ist als auf die eigene Bevölkerung zu schießen. Das macht natürlich einen sehr großen Unterschied im Bewusstsein aus. Denn die Chinesen können sich überhaupt nicht sicher sein, ob auch sie die Unterstützung des Militärs hätten, wenn es tatsächlich hart auf hart käme.

Die Despoten im arabischen Raum haben eine sogenannte "Zuckerbrot-und-Peitsche"-Strategie gefahren: Es wurden dann Reformen versprochen, einzelne soziale Wohltaten wurden an die Bevölkerung weitergegeben. Gibt es in China auch etwas Vergleichbares?

Ja, sogar sehr verbreitet. Das hat aber nicht erst jetzt begonnen. Schon sehr früh hat die autokratische Führung in Peking das Internet für ihre eigenen Zwecke – nämlich die Beobachtung der Bevölkerung – genutzt. Deshalb weiß man sehr genau, in welchen Bereichen Unzufriedenheit herrscht. Und an dieser Stelle setzt die Regierung an: Seit über einem Jahr reist beispielsweise Premierminister Wen Jiabao als das "menschliche Gesicht" der Führung quer durchs Land, hört den Menschen zu, spricht ihnen bei ihren Sorgen gut zu, versucht klarzumachen, dass Peking durchaus ein offener Ohr für die sozialen Probleme hat. Und in diesem Zusammenhang wurde auch versprochen, in verschiedenen Punkten Abhilfe zu schaffen: unter anderem, was die wachsenden Steuerbelastungen oder die steigenden Lebensmittelpreise angeht. Das sind Punkte, bei denen die Regierung schnell zu Stelle ist und lokal eingreift, indem sie beispielsweise Steuernachlässe gewährt. Solche Aktionen werden dann natürlich besonders propagandistisch dargestellt, so dass die Menschen das Gefühl bekommen: Es ist zwar kein geliebtes Regime, aber es ist eins, das reagiert, wenn der Druck von der Straße nur groß genug wird.

Durch die Proteste in der arabischen Welt sind Herrscher gestürzt, die seit mehreren Jahrzehnten im Amt waren. Das wirft die Frage auf, wie fest eigentlich die chinesische Führung im Sattel sitzt.

Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. Wir beobachten, dass die chinesische Führung sich jeweils sehr klug über ihre eigene Situation und die eigene Stabilität im Klaren ist. Außerdem ist die Regierung sich durchaus bewusst, dass aufgrund ihrer Politik keine wirkliche Demokratiebewegung in China entstanden ist. Es ist eine Ansammlung von Individualisten und Aktivisten, aber von einer wirklichen Demokratiebewegung kann man nicht sprechen. Und die letzte wurde zerschlagen. Zwar haben uns die Beispiele im arabischen Raum gezeigt, dass es auch dort überraschend eine so starke Demokratiebewegung gab. Aber in China ist die Kommunikation untereinander gar nicht erst möglich. Und das macht es Oppositionellen eben sehr schwer, dort irgendetwas zu organisieren.

Adrienne Woltersdorf leitet die chinesische Redaktion der Deutschen Welle

Das Gespräch führte Jörg Brunsmann
Redaktion: Silke Ballweg / Esther Felden