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Warnsignal

15. Januar 2011

In Tunesien haben wütende Proteste der Bevölkerung den Präsidenten aus dem Land gejagt. Ein bislang einmaliger Vorgang von großer Bedeutung für die gesamte Region, meint Rainer Sollich.

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Symbolbild Kommentar (Grafik: DW)
Bild: DW

Was in Tunesien passiert ist, ist ein historisches Ereignis und ein starkes Signal in die gesamte arabische Welt hinein. Es zeigt, dass Bevölkerungen sich erfolgreich gegen autoritäre und korrupte Herrscher erheben können, dass "Regime Change" möglich ist aus eigener Kraft - ohne Militärintervention von innen oder außen, sogar ohne Führung durch Oppositionspolitiker oder zivilgesellschaftliche Akteure.

In arabischen Blogs und Internetforen zeigt sich bereits eine Welle der Sympathie mit der tunesischen Jugend, die den Herrschenden in der Region eine Warnung sein muss. Soziale Ungerechtigkeit, Korruption und Jugendarbeitslosigkeit sind dort fast überall weit verbreitet, politische Repression in vielen Ländern an der Tagesordnung. Hinzu kommen Wut und Frustration über fehlende Lebensperspektiven und das tief sitzende Gefühl vorenthaltener persönlicher Würde - ein hochexplosives Gemisch in einer ohnehin äußerst konfliktreichen und instabilen Weltregion.

In vielen arabischen Ländern brodelt es

Rainer Sollich, Leiter des Arabischen Programms der Deutschen Welle (Foto: DW)
Rainer Sollich, Leiter des Arabischen Programms der Deutschen WelleBild: DW

Tunesien ist kein Einzelfall, in vielen arabischen Gesellschaften brodelt es zumindest unterschwellig. Und fast überall bietet gerade die Jugend - und damit praktisch die breite Bevölkerungsmehrheit - das größte gesellschaftliche Protestpotenzial auf. Algerien und Jordanien haben dieser Tage bereits wütende Demonstrationen erlebt, auch in Ägypten regen sich regelmäßig Proteste. Weitere Länder könnten folgen.

Wünschenswert ist eine solche schwer kontrollierbare Dynamik nur bedingt. Der Aufstand der tunesischen Jugend hat zum Sturz eines autoritären Herrschers geführt - das ist unbestreitbar eine positive Errungenschaft. Aber dabei sind auch Menschen ums Leben gekommen, und die weitere Entwicklung des Landes bleibt zunächst einmal völlig ungewiss. Bestenfalls könnte sich Tunesien jetzt tatsächlich zu einem demokratischen Modellstaat für die Region entwickeln. Schlimmstenfalls könnten aber auch neues Chaos und Blutvergießen drohen.

Große Verantwortung für alle Akteure

Auf allen Akteuren in Tunesien liegt damit eine große Verantwortung, die symbolisch über das eigene Land hinausreicht. Die verbleibenden Kräfte des alten Regimes, aber auch die Opposition, die Zivilgesellschaft und die "Straße" - sie alle stehen in der Pflicht, einen transparenten und zugleich geordneten Machtwechsel einzuleiten. Es muss klar erkennbar sein, dass das alte Regime wirklich die Macht abgibt und den Weg frei macht für Freiheit, Pluralismus und mehr soziale Gerechtigkeit. Aber auch die Gewalt auf den Straßen muss jetzt schnell ein Ende nehmen.

Europa als Nachbarregion des Maghreb und der arabischen Welt sollte ebenfalls Lehren aus den Vorgängen in Tunesien ziehen. Die wichtigste lautet: Wir dürfen nicht wegschauen, wenn Herrscher, die politisch und wirtschaftlich eng mit der EU zusammenarbeiten, elementare Menschenrechte missachten oder - wie kürzlich im Falle Ägyptens - schamlos Wahlen manipulieren. Das Beispiel Tunesien verdeutlicht, dass autoritäre Regime nur eine trügerische Stabilität versprechen.

Autor: Rainer Sollich
Redaktion: Ursula Kissel