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"Das Kosovo hat heute im Wirtschaftsbereich weniger Unabhängigkeit als in der sozialistischen Zeit"

18. August 2004

– Gerald Knaus, Leiter der "European Stability Initiative" beklagt im DW-Interview Fehlinterpretationen der UN-Resolution 1244

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Bonn, 18.8.2004, DW-RADIO / Albanisch, Anila Shuka

Frage:

Herr Knaus, wie entstehen die ESI-Berichte?

Antwort:

Wir suchen uns die Themen aus, die für die breiteren Diskussionen des Kosovos wichtig sind. Dann forschen wir vor Ort. Bis dann ein Bericht mit 30 Seiten herauskommt, schreiben wir über 40 Versionen, führen drei-vierhundert Gespräche. Am Anfang wissen wir nicht, was noch das Endergebnis sein wird. In Mitrovica waren wir recht erstaunt, wie dramatisch unterschiedlich die soziale und ökonomische Lage der Albaner und der Serben ist. Die Serben haben ein höheres Pro-Kopf-Einkommen, da sie Transfers sowohl von Kosovo-Verwaltung als auch von Belgrad haben. Wer in Nord-Mitrovica für staatliche Stellen arbeitet, verdient ein doppeltes Gehalt. In Süd-Mitrovica ist die Lage katastrophal. Wenn die Leute nicht Verwandte im Ausland hätten, gäbe es dort gar keine Hoffnung. Die Lage wird sich weiter verschlechtern, wenn nicht wirklich etwas passiert.

Frage

: Und das wäre?

Antwort:

Das ist ein großes Thema. Es gibt derzeit weder von kosovarischer noch von internationaler Seite eine Bereitschaft, die Beschäftigung mit Wirtschaft, Entwicklung und sozialen Fragen in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn Kosovo nichts exportiert und alles importieren muss, dann wird es seine Institutionen nicht finanzieren können. Den Bauer kann man nicht besteuern, denn er produziert kein Bargeld, sondern nur Naturalien für sich selbst. 80 Prozent der Einnahmen werden direkt oder indirekt an der Grenze eingenommen. Wenn das zurückgeht, mit welchem Geld sollen dann die Lehrer finanziert werden oder die Strassen ausgebaut werden?

Frage

: Die Kosovaren beklagen fehlende Unabhängigkeit …

Antwort:

Da haben sie nicht ganz Unrecht. Eines der Probleme ist die fehlende Unabhängigkeit der kosovarischen Institutionen im Inneren des Kosovos, nicht die fehlende Anerkennung als Staat. Beispielsweise hat die Weltbank in einer Studie vor drei Monaten noch gesagt, dass Kosovo einen Wettbewerbsvorteil in Bergbau habe. Kosovo habe Erfahrung, Mienen und Rohstoffe. Selbst in der kommunistischen Zeit war die Regulierung des Bergbaus eine Aufgabe der autonomen Region, also sie wurde in Prishtina gemacht. Heute sagt die UN, dass der Bergbau von niemandem reguliert werden könne, bis der Status gelöst sei.

Frage

: Verhindert die UNO-Resolution 1244 praktisch die wirtschaftliche Entwicklung des Kosovos?

Antwort

: Meiner Meinung nach, wird die 1244 von einigen der internationalen Juristen vollkommen falsch interpretiert. Die "substantielle Selbstverwaltung" muss mindestens soviel Unabhängigkeit bedeuten, wie der Kosovo als Provinz innerhalb Jugoslawiens hatte: Kosovo hat heute im Wirtschaftsbereich weniger Unabhängigkeit als in der sozialistischen Zeit. Hier muss sich die Politik radikal ändern, aber wir brauchen keine neue UN-Sicherheitsratsresolution dazu. Die jetzige ist in Ordnung. Man muss sie nur richtig interpretieren. Wenn sie von den Vereinten Nationen verlangt, in Kosovo einen Rechtstaat und demokratische Selbstverwaltung zu bauen, dann müssen in vielen Bereichen diese Institutionen verantwortlich sein.

Frage

: Wie viel UNMIK braucht Kosovo?

Antwort

: Ich finde vor allem im wirtschaftlichen Bereich sollte sich UNMIK in den nächsten anderthalb Jahren vollkommen zurückziehen. Solange die Resolution 1244 besteht, hat die UN im Kosovo eine Rolle. Nur sie sollte ähnlich mit der Rolle der Alliierten in Berlin der sechziger Jahre sein, das heißt, KFOR soll bleiben und die Kosovaren müssen ein eigenes, multi-ethnisches Innenministerium aufbauen. Dann bräuchten wir eine Polizeimission, wie sie die EU in Mazedonien hat. In zwei Jahren müssen Polizeiaufgaben von den kosovarischen, nicht mehr von den internationalen Institutionen, wahrgenommen werden.

Frage

: Die FDP hat vorgeschlagen, dass man anstelle der UN-Verwaltung eine EU-Verwaltung nach Kosovo bringen sollte? Würde das einen Sinn machen?

Antwort:

Die Idee, dass die UN sich zurücknimmt und die EU sich viel stärker engagiert, ist eine sehr gute Idee, aber die EU sollte nicht einfach das machen, was die UN macht. Vieles von den heutigen UN-Aufgaben sollten an die kosovarischen Institutionen abgegeben werden. Die EU hat, was wirtschaftliche Entwicklung in unterentwickelten Gebieten betrifft, eine unglaublich reiche Erfahrung: Die gesamte Politik der EU mit Strukturfonds, Sozialfonds und Kohäsionspolitik, die von Portugal bis nach Rumänien versucht, peripheren unterentwickelten Gebieten Europas beim Aufholen zu helfen. Genau diese Politik, und genau diese Art von Programmen, sind auch im Kosovo gebraucht. Das Problem ist, dass weder von den kosovarischen Eliten, noch von den internationalen Organisationen im Kosovo, dieses Thema, nämlich wirtschaftliches Aufholen im europäischen Rahmen, konsequent betrachtet wird.

Frage:

Die Politiker im Kosovo beharren auf einer neuen Resolution. Wie realistisch ist das?

Antwort

: Eine Änderung der 1244 durchzuführen, braucht es die Zustimmung von Russland und China im Sicherheitsrat. Die wird es nicht geben, das befürchte ich ganz realistisch, ohne Zustimmung aus Belgrad. Schauen wir uns an, seit wie vielen Jahrzehnten Taiwan ungelöst ist, oder Nordzypern. Dennoch ist es nicht unmöglich. Das Entscheidende wird sein, dass die Kosovo-Institutionen zeigen, dass sie in der Lage sind, den jetzt in Kosovo lebenden Serben, eine Zukunft zu bieten, sowohl Sicherheit als auch Beteiligung.

Frage

: Was sollten die Kosovaren den Serben anbieten?

Antwort

: Eine serbische Mehrheitsgemeinde Mitrovica-Zvecan, eine serbische Gemeinde Gracanica, eine Regulierung und Legalisierung der serbischen Strukturen im Gesundheitsbereich. Die Polizei und die Justiz müssen einheitlich sein. Die Albaner sollen keine Angst vor serbischen Mehrheitsgemeinden haben, die gibt es ja schon. Strpce (alban. Shtërpcë) ist keine Gefahr für Kosovo. Ich glaube, es gäbe sehr viel, was die Kosovo-Institutionen machen können, um zu zeigen, dass es Ihnen ernst ist, im Kosovo lebenden Serben helfen zu können. Wenn das passiert und, wenn eine multiethnische Polizei die Serben im Kosovo effektiv beschützt, dann glaube ich, wäre es auch viel leichter, mit Belgrad zu vernünftigen Gesprächen zu kommen.

Frage

: Zurzeit scheint es aber keine ernsthafte Gesprächsbereitschaft zu geben…

Antwort

: Derzeit umarmen Kosovo und Serbien sich in einer Umarmung, die dazu führt, dass die beide ertrinken, während rundherum Bulgarien, Rumänien, Mazedonien und so weiter in Richtung Europa gehen, in Richtung Wohlstand. Ich glaube, in den nächsten zwei, drei Jahren wird ein Umdenken sowohl in Belgrad als auch in Prishtina beginnen, wie man dieses Problem endlich lösen kann, denn ohne dieses zu lösen, ist sehr schwer sich vorzustellen, dass entweder Serbien oder Kosovo, oder (die Staatenunion – MD) Serbien und Montenegro Verhandlungen mit der Europäischen Union aufnehmen. (MK)