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Wie schnell senkt Deutschland tatsächlich seine Emissionen?

Ajit Niranjan
1. August 2023

Das deutsche Klimagesetz wird abgeschwächt. Experten fürchten, dass Europas größter Verschmutzer den Klimaschutz ausbremst. Was wurde bisher erreicht und welche Sektoren hinken hinterher?

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Eine offene Kohlegrube
Beim Blick auf die Umsetzung der deutschen Klimaziele zeigt sich Licht und SchattenBild: INA FASSBENDER/AFP/Getty Images

Die Bundesregierung plant, eine entscheidende Klausel des Klimagesetzes zu streichen. Diese hätte Ministerien dazu verpflichtet, die eigenen Emissionen deutlich zu reduzieren. 

Deutschland hat sich per Gesetz dazu verpflichtet, die Emission von Treibhausgasen bis Ende dieses Jahrzehnts um 65 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Dabei gelten jährliche Ziele für alle Sektoren - Energie, Gebäude, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft und Abfall.

Auf Druck der marktliberalen FDP, die derzeit den Finanz- und den Verkehrsminister der Regierung stellen, hat das Bundeskabinett im Juni beschlossen, die Sektorziele aufzugeben und stattdessen nur das übergeordnete Ziel für 2030 anzusteuern. Damit können künftig fehlende Reduktionen in einzelnen Bereichen durch mehr Ambitionen anderswo ausgeglichen werden. 

Das richtungsweisende Klimagesetz wurde erst 2021 überarbeitet. Damals hatte das Verfassungsgericht entschieden, dass die Lasten und Kosten des Klimawandels nicht auf künftige Generationen abgewälzt werden dürften und die Bundesregierung zur Nachbesserung aufgefordert. Wissenschaftler befürchten, dass durch die Abschwächung des Drucks auf Einzelsektoren der Klimaschutz ausgebremst wird und das Klimaziel für 2030 in weitere Ferne rücken könnte. 

In seiner jüngsten Analyse hatte der Weltklimarat (IPCC) festgestellt, dass für das globale 1,5-Grad-Ziel unbedingt eine "schnelle, tiefgehende und in den meisten Fällen eine sofortige Reduzierung der Treibhausgasemissionen in allen Sektoren nötig ist".

Als größte Volkswirtschaft in Europa ist Deutschland auch dessen größter Verschmutzer, darum sind die Entscheidungen in Berlin auch maßgeblich für den Erfolg des EU Green Deal. Mit diesem Maßnahmenpaket soll Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent werden will.

2022 hat Deutschland in sechs Kernsektoren insgesamt noch 746 Millionen Tonnen Treibhausgase emittiert. Daten des Bundesumweltamtes (UBA) zeigen, wie schnell Deutschland in den einzelnen Sektoren seit 2010 tatsächlich vorangekommen ist und wie weit diese noch von den gesetzlich festgelegten Zielen entfernt sind.

Energiesektor in Deutschland: Mehr Strom aus Erneuerbaren senkt CO2-Ausstoß

Deutschlands Energiesektor muss bis zum Ende des Jahrzehnts seine jährlichen Treibhausgasemissionen auf 108 Millionen Tonnen reduzieren. Zwischen 2010 und 2022 sanken sie von 369 Millionen Tonnen auf 256 Millionen Tonnen.

Der Energiesektor, der Strom für alles vom Teekessel bis zum Datencenter bereitstellt, ist für den Großteil der deutschen Emissionen verantwortlich. Dort werden so viele Treibhausgase erzeugt wie in den beiden nächstgrößten Sektoren gemeinsam: Landwirtschaft und Industrie. Mit der Schließung von Kohlekraftwerken und dem Ausbau von Wind- und Solarenergie ist die Stromversorgung in den vergangenen Jahren schnell sauberer geworden. Deutschland hat seine Ziele im Stromsektor sogar übertroffen und damit den langsamen Fortschritt in anderen Bereichen kompensiert. Dieser Trend wurde teilweise durch den Konjunktureinbruch während der COVID-19-Pandemie begünstigt.

Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im vergangenen Jahr verbrannte Deutschland mehr Kohle, um die fehlenden Gasimporte zu ersetzen. Die Emissionen des Sektors stiegen dadurch insgesamt zwar an, lagen aber immer noch unter dem gesetzlichen Grenzwert.

Emissionen im deutschen Industriesektor deutlich gesunken

Deutschland muss die Emissionen im Industriesektor bis zum Ende des Jahrzehnts auf 119 Millionen Tonnen reduzieren. Seit 2010 sind sie in diesem Sektor von 186 Millionen Tonnen auf 164 Millionen Tonnen gesunken.  

Die deutsche Industrie - von der Glas- und Papierherstellung bis hin zu Chemikalien für Düngemittel - ist in hohem Maße auf fossile Brennstoffe angewiesen. Der stärkste Rückgang der Industrieemissionen wurde 2022 verzeichnet, nachdem die Spannungen mit Russland die Gaspreise in die Höhe schnellen ließen und die Angst vor einem Engpass einige Unternehmen dazu veranlasste, die Produktion zu drosseln und Gas effizienter zu nutzen.

Gerade in der Industrie ist es schwierig, Emissionen zu reduzieren, da bei wichtigen chemischen Prozessen CO2 freigesetzt wird. Die vielversprechendsten Technologien in den beiden schmutzigsten Industriezweigen sind die Herstellung von Stahl mit grünem Wasserstoff und die Abscheidung von Kohlenstoff aus Zementwerken. Sie werden jetzt erst für den kommerziellen Einsatz in Fabriken integriert.

Dennoch gibt es einige kurzfristige Lösungen. Durch Effizienzsteigerungen können industrielle Emissionen gesenkt werden, noch bevor neue Technologien marktreif sind. Weniger Nachfrage nach wichtigen Produkten würde ebenfalls helfen - beispielsweise, kleinere Autos herzustellen oder die Bauvorschriften zu ändern, damit weniger CO2-intensiverBeton verwendet wird.

Deutschlands Gebäudesektor fast auf Klimakurs

Im Gebäudesektor muss Deutschland die Verschmutzung bis zum Ende des Jahrzehnts auf 66 Millionen Tonnen reduzieren. Bislang sanken die Emissionen von 148 Millionen Tonnen im Jahr 2010 auf 111 Millionen Tonnen in 2022. Obwohl die Emissionen kontinuierlich reduziert werden, hat der Sektor seine Ziele in den vergangenen drei Jahren nicht erreicht. 

Eine Reihe sehr wirksamer Maßnahmen hilft, Gebäude klimatechnisch zu modernisieren - von elektrisch betriebenen Wärmepumpen bis hin zur Isolierung von Wänden. Doch der Einbau in Millionen Haushalten bundesweit ist nicht so einfach.

In den vergangenen Wochen haben sich die Regierungsparteien heftig über das sogenannte Heizungsgesetz gestritten. Es sieht vor, die Neuinstallation von Öl- und Gasheizkesseln ab 2024 zugunsten von Heizsystemen zu verbieten, die zu mindestens 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden. Der Gesetzentwurf wurde nun abgeschwächt. Einige neue Heizungen, die noch mit fossilen Brennstoffen laufen, dürfen nun doch noch bis 2028 installiert werden. Schlupflöcher im Gesetz machen auch das Verbrennen von Gasen wie Wasserstoff möglich, die zwar sauber hergestellt werden können, aber knapp sind.

Deutscher Verkehrssektor: Zu wenig Fortschritte beim Klima

Die jährlichen Schadstoffemissionen des Verkehrssektors müssen bis 2030 bundesweit auf 84 Millionen Tonnen reduziert werden. Seit 2010 sanken sie von 153 Millionen Tonnen auf 148 Millionen Tonnen im Jahr 2022.  

Der Verkehrssektor hat damit bisher die wenigsten Fortschritte gemacht. Trotz kurzzeitiger Schwankungen waren die Emissionen 2019 mit 164 Millionen Tonnen genauso hoch wie 1990. Während der COVID-19-Pandemie, als viele Menschen gezwungen waren, zu Hause zu bleiben, gingen sie stark zurück, seitdem sind sie aber langsam wieder angestiegen. 

Wissenschaftler und Umweltgruppen haben das Verkehrsministerium wiederholt heftig kritisiert, weil es sich nach wie vor weigert, einen tragfähigen Plan zur Erreichung seiner Ziele vorzulegen. 2022 erklärte der von der Regierung eingesetzte Sachverständigenrat für Umweltfragen, die Pläne des Verkehrsministeriums seien zu schwach, um überhaupt eine formale Bewertung abgeben zu können.

Agrarsektor in Deutschland erreicht Klimaziele

Deutschland muss die Verschmutzung im Landwirtschaftssektor bis zum Ende des Jahrzehnts auf 57 Millionen Tonnen reduzieren. Waren es 2010 noch 66 Millionen Tonnen jährlich, sanken dort die Emissionen auf 62 Millionen Tonnen im Jahr 2022. Der deutsche Agrarsektor hat damit in den vergangenen drei Jahren seine Klimaziele erreicht, obwohl die Emissionen nur langsam sinken. 

Neben fossilen Brennstoffen für den Betrieb landwirtschaftlicher Maschinen gibt es in den Betrieben noch viele  weitere Emissionsquellen. Kühe und andere Wiederkäuer etwa stoßen Methan aus, ein Gas, das über einen Zeitraum von 20 Jahren 80 Mal stärker erwärmend auf das Klima wirkt als Kohlendioxid. Und Stickstoffdünger führt zu Lachgasemissionen, das sogar 273 Mal klimaschädlicher ist als CO2. Auch Veränderungen in der Landnutzung - insbesondere die Rodung von Wäldern, um sie als landwirtschaftliche Flächen zu nutzen - setzen CO2 frei und verhindern, dass die Natur klimaschädliche Gase aus der Atmosphäre heraussaugen und speichern kann.  

Während sich die Emissionen der Landwirtschaft aus technologischer Sicht nur schwer auf Null reduzieren lassen, kann ein Umdenken beim Konsumenten großen Einfluss haben. Wenn weniger Lebensmittel im Müll landen - und die Vorschriften zur Vermeidung von Verlusten in der Lieferkette verschärft werden -, verringert sich die Fläche, die für den Anbau von Lebensmitteln gebraucht wird. Und wenn weniger Fleisch und Milchprodukte verzehrt werden, sind für die Produktion weniger Tiere nötig.

Deutschlands Abfallsektor ist auf Kurs 

Deutschland muss die Verschmutzung im Abfallsektor bis zum Ende des Jahrzehnts auf fünf Millionen Tonnen reduzieren. Bislang sind die Emissionen von elf Millionen Tonnen im Jahr 2010 auf vier Millionen Tonnen im Jahr 2022 gesunken, damit wurde das gesetzliche Ziel erreicht. 

Abfälle machen nur einen kleinen Teil der deutschen Emissionen aus. Dennoch wird bei der Verwesung von Lebensmitteln auf Deponien Methan freigesetzt, und Müllverbrennungsanlagen setzen CO2 frei. In dicht besiedelten Städten könnte der Anschluss von Wohnungen Fernwärmenetze, die mit Müllverbrennungsanlagen betrieben werden, eine sinnvolle Lösung sein, wenn dabei das CO2 gleichzeitig vollständig aufgefangen und gespeichert werden kann. 

Darüber hinaus können Strategien zur Verringerung des Abfallaufkommens eine größere Wirkung auf das Klima haben, weil so von vornherein weniger Produkte hergestellt würden. Damit werden Ressourcen geschont, statt verschwendet.

Das deutsche Emissionsziel für 2030: Weitere Reduktionen nötig 

Im Jahr 2030 sollte Deutschland nach dem derzeitigen Gesetz nicht mehr als 440 Millionen Tonnen Treibhausgase ausstoßen. Vergangenes Jahr waren es tatsächlich 746 Millionen Tonnen, damit lag Deutschland noch weit entfernt von dieser Zielmarke.

Laut Plan sollen in den nächsten sieben Jahren die Emissionen des deutschen Energiesektors stark reduziert werden, er sollte bis 2030 weniger Emissionen ausstoßen als die Industrie. Industrie- und Energiesektor zusammengerechnet sollen dann für etwa so viele klimaschädliche Gase verantwortlich sein wie die Sektoren Verkehr, Bauwesen, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft zusammen. 

Laut Climate Action Tracker, einem Projekt verschiedener deutscher Forschungsorganisationen, reichen jedoch selbst diese Zielwerte nicht aus, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Will Deutschland seinen fairen Beitrag zum Klimaschutz leisten, müssten seine Emissionen bis 2030 um mindestens 69 Prozent sinken - und nicht wie bisher geplant um 65 Prozent. Gleichzeitig müsste Deutschland andere Länder, die historisch weniger zum Klimawandel beigetragen haben, finanziell stärker unterstützen.

Redaktion: Jennifer Collins, Gianna-Carina Grün

Dieser Artikel ist Teil einer Kooperation mit dem European Data Journalism Network.

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Dieser Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt. Den englischen Originalartikel finden sie hier.