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Was tun gegen sinkende Kaufkraft?

10. Oktober 2023

Durch die hohe Inflation sinkt die Kaufkraft der Menschen in Deutschland. Das hat auch viel mit Preisen für Lebensmittel und Energie zu tun. Jetzt zeichnet sich erstmals Entspannung ab.

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Symbolbild Deutschland Inflation
Bild: K. Schmitt/Fotostand/picture alliance

Die stark gestiegenen Preise - insbesondere für Lebensmittel und Energie - haben den Verbrauchern in Deutschland stark zugesetzt. Während die Inflationsrate im vergangenen Jahr bei 7,9 Prozent lag, stiegen die Einkommen weniger stark. Das Ergebnis sind Reallohn-Verluste.

Inzwischen zeichnet sich hier zumindest eine leichte Entspannung ab. Im September hat die Teuerungsrate deutlich nachgegeben. Gleichzeitig gab es in vielen Branchen höhere Tarifabschlüsse.

Nach den bislang vorliegenden Daten steigen die durchschnittlichen Tariflöhne in diesem Jahr um 5,6 Prozent, sagt Professor Thorsten Schulten, der beim gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichem Institut (WSI) mit Sitz in Düsseldorf das Tarifarchiv leitet.

"Plus-Minus Null"

Bei einer erwarteten Inflationsrate von knapp sechs Prozent für das Gesamtjahr hieße das, Beschäftigte kämen "so einigermaßen plus-minus Null" raus, sagt Schulten. Erstmals seit zwei Jahren bliebe ihnen also ein weiterer Verlust ihrer Kaufkraft erspart.

Wobei das mit der Kaufkraft ja ohnehin so eine Sache ist, denn ja nach Verwendung hat der Begriff unterschiedliche Bedeutungen.

Blickt man nur auf Preise, kann einem leicht schwindelig werden. So haben sich die Preise seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 fast verdoppelt. In den 32 Jahren zwischen 1991 und heute hat ein Euro also knapp die Hälfte (49 Prozent) seiner Kaufkraft verloren (rein rechnerisch, denn 1990 gab es ja noch die D-Mark).

Wer jetzt geschockt ist und den Wertverfall als Zeichen einer verfehlten Politik (oder auch nur Geldpolitik) sieht, dem sei folgender Vergleich nahegelegt. Das offizielle Inflationsziel der Währungshüter von der Europäischen Zentralbank liegt bei zwei Prozent. (Vor der Euro-Einführung hatte die Bundesbank ein ähnliches Ziel.)

Über denselben Zeitraum wie oben - 32 Jahre - führt eine Inflation von zwei Prozent pro Jahr zu einem Kaufkraftverlust von 47 Prozent. Mit anderen Worten: In der Realität wurde das angepeilte Ziel fast perfekt erreicht.

Löhne stiegen stärker als die Preise

In diesem Zeitraum sind aber nicht nur die Preise, sondern auch die Löhne kräftig gestiegen. Die Löhne sind sogar noch deutlich stärker gestiegen (+121 Prozent) als die Preise (+94 Prozent).

Es wäre also nicht falsch zu sagen, dass es den Beschäftigten trotz Wertverlust der Währung deutlich besser geht. Zumindest dann, wenn von Beschäftigten die Rede ist, die in Vollzeit tätig sind und mindestens den Durchschnittslohn beziehen. Auf wen aber trifft das zu?

Schaut man genauer hin, fallen die Unterschiede ins Auge, sagt Thorsten Schulten vom WSI. "Schon in den 1990er Jahren und dann besonders stark in den 2000er Jahren haben die Unterschiede zwischen den einzelnen Lohngruppen sehr stark zugenommen." Dieses Auseinanderklaffen zwischen hohen und niedrigen Einkommen wird auch Lohnschere genannt.

"Beschäftigte in den florierenden Industriebranchen hatten sehr gute Zuwächse", sagt Schulten. "Dagegen hatten viele Beschäftigte in klassischen Niedriglohnbranchen deutlich geringere Zuwächse, zum Teil auch massive Reallohnverluste."

Die Einführung des Mindestlohns in Deutschland im Jahr 2014 war ein Ergebnis dieser Entwicklung. Nach Definition der Industriestaatenorganisation OECD gilt als Niedriglohn eine Bezahlung, die weniger als zwei Drittel des mittleren Bruttolohns entspricht.

Größter Niedriglohnsektor in Europa

In Deutschland ist der Niedriglohnsektor besonders ausgeprägt. Hier arbeitet jeder fünfte Erwerbstätige, also 20 Prozent. Das ist einer der höchsten Werte in Europa, etwas größer ist er nur noch in Bulgarien, Polen und den baltischen Staaten. Dagegen liegt der Wert im EU-Durchschnitt bei 15 Prozent. In den skandinavischen Ländern, in Frankreich oder Italien macht der Niedriglohnsektor nicht einmal zehn Prozent aus.

Im europäischen Vergleich schwach sieht es in Deutschland auch mit der Tarifbindung aus. Das bedeutet, für wie viele Beschäftigte die Tarifverträge, die Gewerkschaften mit Arbeitgeberverbänden aushandeln, überhaupt gelten.

"In Deutschland ist nur noch jeder zweite Beschäftigte an einen Tarifvertrag gebunden", sagt Thorsten Schulten vom Tarifarchiv des WSI. "In den nordischen Ländern sind es über 90 Prozent. Auch in vielen westeuropäischen Ländern sind es mindestens 80 Prozent der Beschäftigten."

Sinkende Tarifbindung

Im Schnitt lägen Tariflöhne um 15 bis 20 Prozent höher als das, was in Unternehmen ohne Tarifbindung für vergleichbare Tätigkeiten gezahlt werde, sagt Schulten. Der Vergleich mit den europäischen Nachbarn zeige auch: "Je höher die Tarifbindung in einem Land ist, desto kleiner ist der Niedriglohnsektor."

Zwar können Unternehmen nicht gezwungen werden, sich den Tarifverträgen einer Branche anzuschließen. Der Versandhaus-Konzern Amazon etwa weigert sich seit Jahren.

Die Bundesregierung plant ein Tariftreuegesetz. Das sieht vor, staatliche Aufträge nur an Unternehmen zu vergeben, die sich an Tarifverträge halten. Ähnliche Regelungen gibt es bereits in einzelnen Bundesländern.

Professor Schulten vom gewerkschaftsnahen WSI schlägt zudem vor, der Staat solle seine Macht auch in der Industriepolitik nutzen. Etwa dann, wenn er Millionen oder auch Milliarden an Steuergeldern ausgibt, um Investoren nach Deutschland zu locken - sei es den E-Autobauer Tesla oder Chiphersteller wie Intel.

"Diese ganze Wirtschaftsförderung, die wir machen, die Millionen, die wir an Intel und andere vergeben" - fragt Schulten - "warum vergeben wir die eigentlich, ohne damit soziale Kriterien zu verbinden?"

Andreas Becker
Andreas Becker Wirtschaftsredakteur mit Blick auf Welthandel, Geldpolitik, Globalisierung und Verteilungsfragen.