1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
GesellschaftDeutschland

Untersuchungshaft: Monatelang ohne Urteil eingesperrt

Kira Schacht
8. Juni 2022

Jeder fünfte Häftling in Europas Gefängnissen ist noch nicht verurteilt, 12.000 allein in Deutschland. Studien zeigen: Die meisten müssten gar nicht in Untersuchungshaft.

https://p.dw.com/p/4C4db
Seelsorge im Gefängnis
Ein Gefängnisinsasse in der Justizvollzugsanstalt Heilbronn vor einem vergitterten Fenster: Wie in vielen EU-Ländern sind auch in deutschen Gefängnissen viele noch gar nicht verurteiltBild: picture-alliance/dpa/D. Naupold

Ein Amtsgericht in Berlin, April 2021. Ein 19-Jähriger wird dem Haftrichter vorgeführt. Der junge Mann ist obdachlos, stellt sich heraus, von Crystal Meth abhängig. Er schläft in verschiedenen Bahnhöfen in Berlin. Diese Informationen reichen dem Richter, um zu entscheiden: Der Beschuldigte wird heute nicht freikommen. Nicht, weil er die zwei Flaschen Parfüm, "La Vie Est Belle" von Lancôme, gestohlen hat, wegen derer ihn die Polizei am Vortag verhaftet hat - das wird erst später im Prozess ermittelt. Sondern um sicher zu gehen, dass er nicht untertaucht und verfügbar ist, wenn das Gericht ihn erreichen will.

Variationen dieses Falles, den der Jurist und Journalist Ronen Steinke in seinem Buch "Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich" beschreibt, kommen jedes Jahr tausendfach vor. Zwar kommen nur etwa drei Prozent der Menschen, die einer Straftat beschuldigt werden, in Untersuchungshaft. Aber die Zahlen summieren sich: Fast 100.000 Menschen in der Europäischen Union sitzen ohne rechtskräftiges Urteil im Gefängnis. Einer von fünf, 12.000 allein in Deutschland, gelten also noch als unschuldig, sind aber trotzdem eingesperrt.

In anderen EU-Ländern ist die Zahl der Untersuchungshäftlinge sogar höher als in Deutschland.

Datenvisualisierung zeigt die Gefängnispopulation von EU-Ländern relativ zur Bevölkerung im Januar 2021, mit und ohne Untersuchungshäftlingen. Malta, Lettland und Luxembourg haben die meisten Untersuchungshäftlinge mit fast 50 pro 100,000 Einwohnern. Deutschland, Rumänien und Finnland haben die wenigsten Menschen in Untersuchungshaft relativ zur Bevölkerung.
Bild: datenvisualisierung, DDJ, Europa, Strafvollzug, Untersuchungshaft, Gefängnis, Diskriminierung, Deutschland, Justiz

Untersuchungshaft dauert oft Monate, in einigen Ländern im Durchschnitt mehr als ein Jahr, bevor es zum Prozess kommt. Und in vielen Ländern sind es bestimmte Gruppen, die besonders oft eingesperrt werden. 60 Prozent der Menschen in Untersuchungshaft sind laut Strafverfolgungsstatistik Ausländer. Unter allen Beschuldigten sind es nur 30 Prozent - Ausländer werden also viel öfter in Untersuchungshaft genommen als deutsche Beschuldigte. In der Allgemeinbevölkerung machen Ausländer nur 12 Prozent aus. Die meisten Menschen in Untersuchungshaft sind außerdem arbeitslos, etwa die Hälfte ist obdachlos, wie eine Studie ergab.

Meistens kleinere Straftaten

"In der Regel geht es um eine Kombination aus einer Flasche Schnaps, Kaffee oder einem Energydrink und Fleischsalat oder Ölsardinen", so Christine Morgenstern, Professorin für Strafrecht und Geschlechterforschung an der Freien Universität Berlin. In ihrer Habilitationsschrift hat sie Untersuchungshaft in Europa erforscht. Mehr als ein Drittel aller Personen, die sich in Deutschland in Untersuchungshaft befinden, werden eines Diebstahls beschuldigt, in der Regel  eines kleineren Delikts wie der beschriebenen. Und obwohl die Daten spärlich sind, legen Untersuchungen nahe, dass dies nicht nur ein deutsches Problem ist. "Wir haben in anderen europäischen Ländern, die wir untersucht haben, ein ähnliches Muster festgestellt", so Morgenstern. "Sogar in Ländern mit einer liberaleren Politik."

Datenvisualisierung zeigt: 6 von 10 Untersuchungshäftlingen in Deutschland sind Ausländer, 6 von 10 sind arbeitslos, 5 von 10 obdachlos.
Bild: datenvisualisierung, DDJ, Europa, Strafvollzug, Untersuchungshaft, Gefängnis, Diskriminierung, Deutschland, Justiz, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Ausländer

Um zu entscheiden, ob sie jemanden inhaftieren, müssen Richter abwägen: Wird die Person, wenn sie freigelassen wird, Beweise manipulieren, Zeugen einschüchtern oder vor der Strafverfolgung fliehen? In 95 Prozent der Untersuchungshaft-Fälle in Deutschland geben die Richter Fluchtgefahr als Hauptgrund an.

Theoretisch sollten Richter diese Entscheidung auf der Grundlage konkreter Beweise im individuellen Fall treffen. Die Realität sieht jedoch oft anders aus, sagt Strafverteidigerin Lara Wolf. "Man sperrt die Leute aufgrund von Gefühlen, Vermutungen, Alltagstheorien ein." Ihre Doktorarbeit ist eine der wenigen Studien zur Fluchtgefahr, in der empirisch untersucht wird, welche persönlichen Faktoren beeinflussen, ob sich jemand der Strafverfolgung entzieht.

Benachteiligte Gruppen häufiger eingesperrt

In Ermangelung konkreter Forschung, so die Ergebnisse von Wolfs Arbeit, bilden sich Richter und Richterinnen eigene Theorien aufgrund von persönlichen Erfahrungen - und Vorurteilen. Juristische Nachschlagewerke und Interviews mit Richtern zeigen: Auslandskontakte etwa gelten allgemein als fluchtbegünstigend, ebenso wie Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, schlechte Bildung. Ein fester Arbeitsplatz, eine gute Ausbildung und persönliche Bindungen werden dagegen positiv als fluchthemmend interpretiert. Bis in die späten 1980er Jahre hinein vertraten einige Richter noch die Auffassung, dass homosexuelle Beziehungen nur ausnahmsweise das Fluchtrisiko senken, da sie in der Regel weniger verbindlich seien als heterosexuelle Bindungen. Das Ergebnis: Bereits ausgegrenzte Gruppen werden deutlich häufiger bereits vor dem Prozess inhaftiert.

Wolf analysierte 169 Fälle in ganz Deutschland, in denen das Gericht von Fluchtgefahr ausging, Beschuldigte aber aus verfahrenstechnischen Gründen freigelassen wurden. "Ich war überrascht, wie eindeutig die Ergebnisse waren", sagt sie. In den meisten Fällen erschienen die Angeklagten zur Verhandlung, nur 14 von 169 Personen flüchteten. Ein weiterer Anwalt, der daraufhin ähnliche Fälle in seinem Bezirk zählte, fand nur einen Angeklagten unter 65 Fällen, der flüchtete. "Das erreicht ein Maß, wo etwas so systematisch schiefläuft, dass die grundsätzliche Praxis einfach rechtswidrig ist", sagt Wolf. "Ich finde die Idee immer noch schockierend, dass man Menschen aufgrund von Gefühlen einsperrt, aufgrund falscher Annahmen, die nie jemand überprüft hat."

Weder der Deutsche Richterbund noch die Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung wollten sich auf Anfrage von DW zu den Ergebnissen der Studie äußern. Die Europäische Richtervereinigung ihrerseits verwies auf eine Schlussfolgerung aus dem Jahr 1989. Das Dokument nennt überlastete Justizsysteme als mögliche Ursache für "unbefriedigende" Situationen, und empfiehlt mehr Ressourcen für die Strafjustiz sowie eine verbesserte internationale Zusammenarbeit.

Datenvisualisierung zeigt zwei Studien zu Fällen, in denen deutsche Gerichte von Fluchtgefahr ausgingen, Angeklagte aber trotzdem freilassen mussten. Beide Studien fanden, dass die meisten (> 90%) der Angeklagten doch vor Gericht erschienen.
Bild: datenvisualisierung, DDJ, Europa, Strafvollzug, Untersuchungshaft, Gefängnis, Diskriminierung, Deutschland, Justiz,Fluchtgefahr

In Untersuchungshaft herrschen oft besonders harsche Bedingungen: Die Menschen verbringen in der Regel 23 Stunden am Tag in ihrer Zelle, ohne Kontakt zur Außenwelt und mit kaum Aktivitäten, um sich die Zeit vertreiben. Resozialisierungsmaßnahmen wie Arbeit oder Sozialprogramme stehen denjenigen, für die noch die Unschuldsvermutung gilt, nicht zur Verfügung, erklärt Strafrechtsprofessorin Christine Morgenstern. Hinzu kommt die erschütternde Erfahrung, aus dem Alltag gerissen zu werden, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, wie es weitergeht. Aus ihrer Forschung weiß Morgenstern: "Es ist eine sehr unangenehme, instabile, beängstigende, persönliche Situation."

Fast die Hälfte aller Verfahren mit U-Haft endet ohne Haftzeit

Und es kann sich ziehen. Mehr als die Hälfte der Untersuchungshäftlinge verbringen drei Monate oder länger in Haft.

Datenvisualisierung zeigt Dauer der U-Haft in Deutschland. 80% bleiben bis zu 3 Monate in Haft, 60% bis zu 6 Monate, 30% bis zu einem Jahr und 8% mehr als ein Jahr.
Bild: datenvisualisierung, DDJ, Europa, Strafvollzug, Untersuchungshaft, Gefängnis, Diskriminierung, Deutschland, Justiz

Zwar gilt: Das deutsche Recht schreibt ausdrücklich vor, dass die Dauer der Untersuchungshaft in einem angemessenen Verhältnis zur möglichen Strafe stehen muss. Die Zeit in der Untersuchungshaft wird auch auf die endgültige Strafe angerechnet.

Doch in fast der Hälfte aller Fälle endet das Verfahren ohne eine tatsächliche Haftzeit. Die die Strafverfolgungsstatistik zeigt: Fast 30 Prozent aller Menschen in Untersuchungshaft werden nach dem Verfahren auf Bewährung freigelassen. Zehn Prozent erhalten eine Geldstrafe und weitere acht Prozent werden entweder freigesprochen, kommen mit anderen Maßnahmen davon oder das Verfahren wird eingestellt.

Es gibt Alternativen, die Gerichte ergreifen könnten. Bei EU-Bürgern können Polizei und Justiz bereits zusammenarbeiten, um Beschuldigte etwa in ihrem Heimatland vor Gericht zu stellen oder sie der Strafverfolgung auszuliefern, anstatt sie vor Ort festzunehmen, sagt Morgenstern. Aber: "Diese Möglichkeiten werden kaum genutzt."

Manche plädieren auch für andere Maßnahmen wie etwa elektronische Fußfesseln. In Italien oder Belgien etwa wird das bereits praktiziert. Morgenstern ist jedoch vorsichtig: "In Belgien zum Beispiel werden diese Alternativen sehr häufig genutzt, aber es wird immer noch die gleiche Anzahl von Menschen inhaftiert. Wir nennen das 'net widening'. Und damit ist aus freiheitsrechtlicher Sicht auch nicht viel gewonnen."

Weniger Untersuchungshaft könnte überfüllte Gefängnisse entlasten

Die hohe Zahl an Untersuchungshäftlingen trägt außerdem massiv zur Überfüllung von Gefängnissen bei: In einem von drei europäischen Ländern sind mehr Menschen in Haft, als die offizielle Belegungskapazität vorsieht. Besonders problematisch ist das während der Corona-Pandemie: Enge Unterkünfte und schlechte hygienische Bedingungen machen Gefängnisse zu einem idealen Nährboden für Krankheiten wie das Coronavirus, wie eine DW-Recherche ergab.

Würden alle Untersuchungshäftlinge entlassen, wären die Gefängnisse in fast allen EU-Ländern schlagartig nicht mehr überfüllt. Und auch wenn die Untersuchungshaft in manchen Fällen weiterhin notwendig sein wird: Würde man weniger Menschen schon vor dem Prozess einsperren, würde das die überstrapazierten Gefängnisse entlasten - und die Menschen, die dort inhaftiert sind.

Datenvisualisierung zeigt Überfüllung von Gefängnissen in EU-Ländern mit und ohne U-Häftlinge. Mit Untersuchungshäftlingen haben etwa ein Drittel der Länder überfüllte Gefängnisse. Ohne U-Häftlinge läge nur noch Rumänien bei über 100% der Belegungskapazität.
Bild: datenvisualisierung, DDJ, Europa, Strafvollzug, Untersuchungshaft, Gefängnis, Diskriminierung, Deutschland, Justiz

Redigiert von: Peter Hille, Gianna Grün

Dieses Projekt ist eine gemeinsame Recherche im Rahmen des European Data Journalism Network.

Projektleitung: Civio

Mitwirkende: Deutsche Welle, Divergente, El Confidencial, EUrologus, OBCT, VoxEurop