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Stadt der Engel

17. Juni 2010

Kein anderer Schriftsteller, keine andere Schriftstellerin hat in Ost und West so viel Aufmerksamkeit und Zuspruch erfahren wie Christa Wolf. Nun hat die mittlerweile 81-Jährige in Berlin ihr neues Buch vorgestellt.

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Die deutsche Schriftstellerin Christa Wolf stellt am Mittwoch (16.06.2010) in der Akademie der Künste in Berlin ihr neues Buch "Stadt der Engel" vor. Foto: Rainer Jensen dpa/lbn
Bild: picture alliance / dpa

Ein Literaturkritiker hätte den Abend moderieren sollen. Er hat jedoch kurzfristig abgesagt. Alle anderen aber sind gekommen, rund 700 Gäste insgesamt, Weggefährten, Kollegen und Bewunderer. Das Hallo war groß und das Gedrängel auch, grauhaarige Gäste saßen auf Treppenabsätzen und sogar in einem zusätzlich geöffneten kleinen Zuschauerraum hinter dem Podium. Die Krücken, an denen Christa Wolf gehen muss, hatten sie von hier aus gut im Blick und den Rücken der Autorin, die überaus munter mit ihrem Schriftstellerkollegen Ingo Schulze plauderte. Der, sowohl Direktor der Sektion Literatur der Akademie wie auch ein Freund der Autorin, war nämlich kurzerhand als Moderator des Abends eingesprungen und führte souverän in Christa Wolfs neues Buch "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" ein.

Ein Textgewebe, ein Lebensmuster

Er würde, sagt Schulze, so weit gehen zu sagen, dass dieser Text "so tut, als wäre er ein Journal oder ein Reisebericht, dass er dieses Genre aber nur benutzt, weil es alle Freiheiten lässt, dass es aber eigentlich ein Textgewebe viel feinerer Art wird, ein Lebensmuster".

Foto: Rainer Jensen dpa/lbn +++(c) dpa - Bildfunk+++
Christa Wolf am Mittwoch (16.06.2010) in der Akademie der Künste in Berlin.Bild: picture alliance / dpa

Eine Einordnung, mit der Christa Wolf hoch zufrieden ist. Mehr als zehn Jahre hat sie an ihrem Buch 'Stadt der Engel' gearbeitet. Diese Stadt der Engel, das ist natürlich Los Angeles. 1992/93 hat Christa Wolf dort neun Monate als Stipendiatin verbracht. Bill Clinton wurde gerade neuer amerikanischer Präsident, in Ostdeutschland mehrten sich rechtsradikale Übergriffe auf Asylanten und Christa Wolfs sogenannte (Stasi-) "Täterakte" gelangte in die Öffentlichkeit. Das, was sie dort in Santa Monica jeden Tag erlebte und was sie beschäftigte, sagt Christa Wolf, habe sie so stark vereinnahmt, dass sie begonnen habe, es aufzuschreiben, wie ein Tagebuch.

Viele Jahre Arbeit

Sie sei dann mit einem ehr dicken Stoss von Manuskriptseiten zurück nach Deutschland gekommen und habe zunächst eigentlich andere Sachen gemacht. Aber zwischendurch hätte sie doch mit den Aufzeichnungen gearbeitet, hätte entworfen, verworfen, und im Laufe der Zeit immer weiter ausgeholt. "Und es ist dann dazu gekommen, dass ich praktisch die Schichten ablesen kann in Form der Stapel von Manuskripten. Ich habe, glaube ich, noch bei keinem Buch so viel Papier um mich rum aufgehäuft".

Ein moralisches Todesurteil

Denn es hat lange gedauert, bis der Roman seine heutige Form gefunden hat, bis er zu diesem Gewebe geworden ist, einem Gewebe aus Erinnerungen und Selbstbefragungen, aus Alltagsbeobachtungen und Episoden, aus amerikanischer und deutscher Geschichte, aus Spurensuche, Zweifel und Selbstfindung. Eine gute Stunde hat Christa Wolf an diesem Abend in der Akademie aus ihrem Buch gelesen – Gewebeschnipsel - und das Publikum ist dabei ganz dicht bei ihr geblieben und hat Sätze gehört, die es nicht vergessen wird. Sätze wie diesen: "Kannst Du dir nicht vorstellen, wie dir wird, wenn dir aus so einer Akte zwei Buchstaben entgegenschlagen, die in dieser Sekunde wie ein Gerichtsurteil sind, wie ein moralisches Todesurteil: IM !"

Foto: Katharina Kneisel
Signierte Exemplare waren an diesem Abend begehrtBild: Katharina Kneisel

IM – informeller Mitarbeiter der Stasi war Christa Wolf kurzfristig Ende der 50-er Jahre, unter dem Decknamen Margarete. Aber sie hat es zu ihrem eigenen Entsetzen vergessen, verdrängt, und erst wenige Monate vor dem USA-Aufenthalt aus ihrer 'Täterakte' wieder erfahren - beim Studium jener anderen 42 Akten, in denen nachzulesen ist, was Stasi-Spitzel jahrzehntelang über sie zusammen getragen haben.

Vom Mut, sich selbst in Frage zu stellen

Sollte er in zwei Sätzen benennen, was ihm an diesem Buch wichtig ist, dann würde Ingo Schulze sagen: "Weil es hier möglich wird, Erfahrungen einzuordnen und vergleichbar zu machen und auszuhalten, ohne sie zu relativieren". Dann, der Abend war schon fortgeschritten, wollte er von Christa Wolf noch wissen, warum sie in der DDR geblieben ist. Obwohl sie doch zu den wenigen gehörte, die einen Pass besaßen, die also reisen, auch ausreisen konnten. Und sie sah ihn an und sah ihr Publikum an und sagte, dafür habe es eine Reihe von Gründen gegeben. Einer davon war der, dass sie glaubte, gebraucht zu werden. Applaus in der Akademie, stehende Ovationen.

Autorin: Silke Bartlick
Redaktion: Gabriela Schaaf