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Russland bald ohne Russen?

Stephan Hille15. März 2006

Innerhalb von 15 Jahren ist die Lebenserwartung für Russen um fünf Jahre gesunken. Die Bereitschaft zu Kindern ist gering. Die Migrations-Politik steckt noch in den Kinderschuhen.

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Russland hat ein Problem: Dem Riesenreich gehen die Russen aus. Der Bevölkerungsrückgang ist ein Problem der meisten Industrienationen, doch in Russland nimmt die Bevölkerung seit Beginn der 1990er-Jahre dramatisch ab. Vor allem unter den Männern ist die Sterblichkeit massiv gestiegen und während die Lebenserwartung weltweit steigt, ist sie für den russischen Mann rapide gesunken.

Als Gründe zitieren die Experten einen höchst ungesunden Lebensstil – Killer Nummer 1 sind Wodka und Tabak. Bis zu 40.000 Russen jährlich rafft vor allem gepanschter Alkohol dahin. Als zweiter Faktor gilt der extreme Leichtsinn, der russische Männer jedes Jahr verunglücken lässt. Allein im Straßenverkehr kommen jährlich 40.000 Menschen um. Unter den Opfern sind überwiegend junge Männer.

Schließlich führen die Experten auch den psychologischen Stress nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion an, der vor allem die Männer schwer traf, als viele Betriebe schlossen, Gehälter monatelang nicht gezahlt wurden und Währungskrisen die Ersparnisse vernichteten. Zwei Drittel aller russischen Selbstmörder sind männlich.

Das Leben von Iwan Iwanowitsch Iwanow ist kurz: Gegenwärtig hat der russische Otto Normalverbraucher im statistischen Durchschnitt eine Lebenserwartungszeit von gerade mal 58,6 Jahren. Noch vor 15 Jahren lag die statistische Lebenszeit bei 63,4 Jahren. Verglichen mit Westeuropa ist auch dieses Alter ein niedriger Wert, dass aber die Lebenserwartung innerhalb von nur 15 Jahren um fünf Jahre gesunken ist, stimmt nachdenklich.

Bei den russischen Frauen lässt sich dieser Trend nicht beobachten. Im Vergleich zu 1990 hat sich ihre Lebenserwartung kaum verändert, gegenwärtig erreichen russische Frauen ein Durchschnittsalter von 73 Jahren, das ist nur ein Jahr weniger als 1990. Daraus lässt sich schließen, dass in Russland eher die Frauen das "starke Geschlecht" bilden. Doch die Bereitschaft, Kinder zu gebären, ist ähnlich wie in Westeuropa gesunken. Inzwischen bekommt die russische Frau statistisch 1,3 Kinder. Junge Väter sind offenbar Mangelware.

Viele Beziehungen zerbrechen, und jede zweite Frau ab 35 ist bereits einmal geschieden worden. Die Schwangerschaftsabbrüche sind relativ hoch, noch immer zählt Abtreibung als das Hauptmittel der Geburtenkontrolle. Doch als Folge von unprofessionell betriebenen Abbrüchen und unhygienischen Bedingungen bleibt ein Fünftel der Frauen ungewollt unfruchtbar.

All diese Statistiken erklären, warum die Bevölkerung in nur 15 Jahren um über sechs Millionen Menschen zurück gegangen ist. Falls sich nichts ändert, warnen Experten, wird die Bevölkerung bis zum Jahr 2025 um weitere 21 Millionen Menschen schrumpfen. Und in fünfzig Jahren könnte Russland sogar ein Drittel seiner Bevölkerung eingebüßen.

Doch was tun? Gelegentlich wird von einigen Politikern der Ruf nach Einführung der Vielehe laut. Als ob sich der Bevölkerungsrückgang durch Polygamie bekämpfen ließe. Weitaus realistischere Maßnahmen wären Investitionen in das Gesundheitssystem und in die medizinische Vorsorge sowie eine Migrations-Politik, die Anreize für eine gezielte Einwanderung setzt. Russland bräuchte pro Jahr mindestens eine halbe Million Zuwanderer, um die derzeitige Bevölkerungszahl zu halten, schätzen Experten. Doch dem stehen die verbreitete Fremdenfeindlichkeit gegen Einwanderer aus dem Kaukasus und Zentralasien entgegen.

Präsident Wladimir Putin hingegen sieht das Heilmittel im wirtschaftlichen Aufschwung. Als Ziel fordert Putin eine Verdoppelung des Bruttoinlandsproduktes innerhalb von zehn Jahren, doch ob dieser ambitionierte Plan realisierbar ist, scheint fraglich.