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Armut in Deutschland

24. Juni 2010

2010 hat die EU zum europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung benannt. Auch in Deutschland wächst die Armut - Politiker und Experten suchen in Berlin nach Lösungen.

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Ein bettelnder Mann in einer Fußgängerzone (Foto: AP)
Unter der ArmutsgrenzeBild: AP

Sie stehen vor dem Brandenburger Tor hinter einer dicken roten Linie, die auf das Pflaster gemalt ist. Frauen und Männer in weißen T-Shirts, auf denen Sprüche gedruckt sind wie: "Ich bin überschuldet und bin arm", "Ich habe keine Ausbildung und bin arm", "Ich bin alleinerziehend und bin arm". Die rote Linie soll eine fiktive Armutsgrenze darstellen, unterhalb derer in Deutschland mittlerweile jeder siebte Bürger lebt - etwa 15 Prozent. In ganz Europa sind es 17 Prozent, etwa 84 Millionen Menschen.

Allerdings bedeutet Armut in einem Land wie Deutschland mehr, als nur zu wenig zu essen zu haben, zu wenig Kleidung und kein Dach über dem Kopf.

Menschenwürdig leben auch ohne Geld

Das Wort "Armutsgrenze" steht am Dienstag (22.06.2010) in Berlin auf dem Pflaster vor dem Brandenburger Tor (Foto: picture-alliance/dpa)
Bis dahin! - bildliche Armutgrenze in BerlinBild: picture-alliance/dpa

So urteilte vor kurzem auch das Bundesverfassungsgericht, als es die Regelsätze für das Arbeitslosengeld II für rechtswidrig erklärte. Ein wegweisendes Urteil, sagt Malu Dreyer, Ministerin für Arbeit und Soziales in Rheinland-Pfalz. "Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Urteil nicht nur das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum festgeschrieben, sondern das Bundesverfassungsgericht hat uns auch sehr deutlich gemacht, dass dazu ausdrücklich auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gehört", sagt Dreyer. Hilfebedürftige seien keine Almosenempfänger, sie seien Bürgerinnen und Bürger dieses Landes und sie haben ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe. "Der Staat hat umgekehrt auch die Pflicht, diese zu gewährleisten."

In Zeiten leerer Staatskassen und angekündigter Sparpakete ist das nicht mehr selbstverständlich. Derzeit leben der Caritas zufolge in Deutschland fast sieben Millionen Menschen von staatlicher Unterstützung, darunter 2,5 Millionen Minderjährige. Die Kinderarmut hat sich seit 2004 praktisch verdoppelt. Armut bedeutet für sie vor allem eine deutlich geringere Chance auf einen guten Schulabschluss. Aus armen Kindern werden damit in der Regel auch wieder arme Erwachsene.

Mehr Gerechtigkeit für die Armutsbekämpfung

Die Präsidentin der Viadrina-Universitaet Frankfurt (Oder), Gesine Schwan (Foto: AP)
Gesine Schwan plädiert für mehr gesellschaftliche GerechtigkeitBild: AP

Für die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan ist Armut damit ein Ausdruck großer Ungerechtigkeit. "Dann liegt es in der Tat nahe, sich auf den Ursprung der Gerechtigkeitsforderung, nämlich die prinzipielle Gleichheit aller Menschen in ihrer Würde, ihren Rechten und Pflichten zu besinnen und auf der Grundlage rechtsstaatlicher, demokratischer Verfahren in der konkreten Vereinbarung über Renten, Steuern, Bildungs- und Arbeitschancen diesen Rückbezug immer wieder zu vergegenwärtigen", so Schwan. Die Aussage von Wohlhabenden, alle hätten über ihre Verhältnisse gelebt, die verbiete sich dann ebenso wie eine de facto parasitäre Versorgungsforderung.

Gerechtigkeit in der Gesellschaft, das wäre ein Ausgleich zwischen Arm und Reich. Doch den, so kritisiert Gesine Schwan, strebe die Koalition aus CDU, CSU und FDP nicht an. Das hat Folgen für das öffentliche Bewusstsein. Dort gibt es derzeit keinen Konsens zur Armutsbekämpfung. "Die Hauptverantwortung liegt bei denen, die es besser haben. Eine kaltschnäuzige Reklamation, dass der Markt sich reibungslos durchsetzen müsse, verstößt ebenso gegen die Gerechtigkeit, wie die Anmeldung von Besitzansprüchen auf Kosten der Arbeitslosen oder der kommenden Generation."

Anständige Arbeit für ausreichend Geld

Arbeitssuchende warten in der Bundesagentur für Arbeit in Duisburg (Foto: AP)
Die Arbeitssuche darf keine Sackgasse seinBild: AP

Mahnende Worte gegen den Zeitgeist. Die Realität, so klagen Wohlfahrtsverbände, sieht anders aus. Armut trifft mittlerweile auch Menschen aus dem vermeintlich sicheren Mittelstand. Seit Beginn der 1970er-Jahre ist die Lohnquote, also das Verhältnis vom Arbeitseinkommen zum Volkseinkommen, kontinuierlich gesunken. Gleichzeitig wächst der Niedriglohnsektor und damit die Zahl der Beschäftigten, die von ihrem Gehalt nicht mehr leben können.

Für die Gesellschaft habe das fatale Konsequenzen, wie die SPD-Politikerin Dreyer erklärt. "'Arbeit muss sich lohnen', das ist ja inzwischen ein schrecklich interpretierter Satz geworden. Er bedeutet auf jeden Fall nicht, dass wir die Transferleistungen immer weiter nach unten schrauben, um die Niedrig-Löhner und die Mini-Jobber in einem gewissen Abstand dazu zu haben", sagt Dreyer. "Arbeit muss sich lohnen" bedeute, dass die Menschen anständige Arbeit haben, dass sie gute Arbeit haben und gescheit verdienen, "dass wir Mindestlöhne haben und dass die Transferleistungen umgekehrt dem entsprechen, was das Bundesverfassungsgericht festgelegt hat."

Soziale Unruhen, da sind sich die Experten einig, wird es in Deutschland so schnell wohl nicht geben. Derzeit richtet sich die Wut der Betroffenen noch nach innen. Sie werden krank. Auch bei Kindern, die in Armut leben, sind Depressionen keine Seltenheit mehr.

Autor: Sabine Kinkartz
Redaktion: Nicole Scherschun

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