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Sprachenstreit

Anke Hagedorn8. Oktober 2008

Der Dauerstreit zwischen Belgiens Sprachgruppen - den frankophonen Wallonen und den niederländischsprachigen Flamen - behindert eine Staatsreform. Eine neue Verhandlungsrunde soll endlich eine Lösung bringen.

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Belgische Flaggen hängen von den Balkonen eines Hauses
Bald Vergangenheit? Belgien steht immer wieder kurz vor einer ernsthaften RegierungskriseBild: AP

Es gibt Fernsehsendungen auf flämisch und französisch, Kinofilme werden in beiden Sprachen untertitelt, die Ansagen in der U-Bahn sind ebenso auf zwei Sprachen wie die meisten Straßenschilder: Brüssel ist eine zweisprachige Stadt, doch Flamen und Wallonen leben hier mehr neben- als miteinander. Das sagt auch Veronique Lamquin. Sie leitet das Politikressort der größten belgischen Tageszeitung “Le Soir” und gehört zu der wallonischen Mehrheit in der Stadt. Flamen und Wallonen könnten immer seltener miteinander kommunizieren, sagt sie. Denn es gebe nur sehr wenige Gemeinsamkeiten. “Wir sehen andere Fernsehprogramme, interessieren uns für andere Dinge. Wir leben in zwei verschiedenen Welten. Wir halten an Belgien fest. Aber was verbindet uns wirklich mit den Flamen? Eigentlich nicht viel, um ehrlich zu sein.”

Flandern und Wallonen an einem Tisch

Am Mittwoch (8.10.2008) wurden in Belgien die Verhandlungen über eine Verfassungsreform wieder aufgenommen: Fünf flämische und sechs wallonische Vertreter sitzen sich dann gegenüber in der Hoffnung, endlich zu einer Einigung zu kommen. Flandern wolle eine größere Eigenständigkeit, erklärt Veronique Lamquin. Belgien stehe bei diesen Gesprächen unter Umständen vor einer entscheidenden Wende. “Das Ziel dieser Staatsreform ist es, die Autonomie der einzelnen Regionen und Gemeinden zu stärken. Die Frage ist: Wie weit soll diese Eigenständigkeit gehen? Geht es nur um Bereiche wie Arbeitsmarkt, Steuern oder um mehr?”, sagt sie. Die Wallonen befürchteten, dass die Flamen im Norden des Landes eine Abspaltung vom Süden anstrebten.

Staatsreform statt Abspaltung

Premierminister Yves Leterme kratzt sich am Kopf (14.05.2007/AP)
Premierminister Yves Leterme hat Schwieirgkeiten mit der Staatreform.Bild: AP

Für die ärmeren wallonischen Gegenden wäre eine Abspaltung gleichbedeutend mit einem wirtschaftlichen Abschwung. Ohne die Geldtransfers aus dem reichen flämischen Norden ist der derzeitige Lebensstandard in Wallonien und auch in der Hauptstadt Brüssel nicht zu halten. Dennoch zeigen jüngste Umfrageergebnisse, dass auch immer mehr Wallonen sich mit der Idee einer Abspaltung anfreunden können. Veronique Lamquin bezweifelt allerdings, dass die Flamen es tatsächlich so weit kommen lassen werden. Zwar sei ein solches Abspaltungsszenario jetzt wahrscheinlicher als noch vor zwei Jahren. Dennoch ist sie der Meinung, dass sich die Flamen mit einer umfassenden Staatsreform zufrieden geben würden. Denn sie fühlten sich zum einen nach wie vor zu Belgien gehörig. Zum anderen gebe es einen weiteren Knackpunkt bei den Verhandlungen, sagt Veronique Lamquin: Brüssel.

Tiefer Graben zwischen den Sprachgruppen

Map of Belgium
Die ärmeren wallonischen Gegenden im Süden fürchten eine Abspaltung; sie könnten ihren derzeitigen Lebensstandard nicht mehr halten.Bild: AP Graphics Bank/Wolf Broszies

“Die Flamen können und wollen nicht auf Brüssel verzichten”, erklärt sie. “Das ist die Hauptstadt Europas, die einzige Stadt in Belgien, die international Gewicht hat. Und die Flamen wissen, dass wenn es tatsächlich zu einer Spaltung Belgiens kommen würde, sie niemals Brüssel bekommen würden.” Die große Mehrheit der Bevölkerung sei nämlich frankophon, sagt Lamquin weiter. Rund 90 Prozent der Menschen dort sprächen Französisch. “Das heißt, Brüssel wird niemals zu Flandern gehören.” Der Graben zwischen den beiden Sprachgemeinden in Belgien ist tief und das nicht erst seit der angestrebten Verfassungsreform. Bei fast jeder politischen Entscheidung spielt dieser Zwist mit hinein. Die Situation in diesem Land, das die Hauptinstitutionen der Europäischen Union beherbergt, sei ein Menetekel für Europa und den europäischen Integrationsprozess, sagt Veronique Lamquin. Die Chance muss genutzt werden In diesem kleinen Land verdichteten sich Probleme, die es auch woanders in Europa gibt. Dazu gehörten auch die Autonomiebestrebungen Flanderns, die es auch in anderen Ländern gebe, erklärt sie. “Wir haben die Frage der Minoritäten, die hier nicht so extrem ist, wie in anderen Ländern. Aber es gibt das Problem der frankophonen Minderheit in Flandern, die sich in ihren Rechten verletzt sieht.” Und es gebe die flämische Minderheit in Brüssel, wo es ebenfalls Probleme gebe, sagt Veronique Lamquin weiter. Umso wichtiger sei es, dass beide Seiten erkennen, dass diese Chance nicht vertan werden dürfe. Wenn Flamen und Wallonen sich jetzt nicht einig werden, dann stehe Belgien wirklich vor einer Spaltung.