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Nachträglich lebenslänglich

4. Mai 2011

Ende für die Haft nach der Haft: Das Bundesverfassungsgericht hat alle Vorschriften zur Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt, bis 2013 müssen neue her. Eindrücke aus einem Trakt für Sicherungsverwahrung.

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Zellentür in JVA Aachen, Abteilung Sicherungsverwahrung (Foto: Daphne Grathwohl)
Bild: DW/Daphne Grathwohl

Justizvollzugsanstalt (JVA) Aachen, Sicherungsverwahrungs-Trakt. Ein breiter Flur, Glastüren zum Aufenthaltsraum mit Kunstledersofas, Fernseher und Topfpflanzen. Rechts und links schwere, grüne Zellentüren. Dahinter befindet sich jeweils das kleine Reich eines Sicherungsverwahrten – manchmal für Jahrzehnte.

Abteilungsleiterin der Abteilung Sicherungsverwahrung Monika Ißelhorst-Zimmermann. (Foto: Daphne Grathwohl)
Monika Ißelhorst-Zimmermann leitet die Abteilung SicherungsverwahrungBild: DW/Daphne Grathwohl

Bei einem einzigen der zurzeit 54 Verwahrten wurde diese Sicherungsverwahrung erst nachträglich angeordnet. Und nicht bereits im Urteil. Peter S. (der Name wurde von der Redaktion geändert) kam nach neun Jahren Haft nicht frei, sondern in Sicherungsverwahrung. Das war vor fünf Jahren. Bei dem Gewalttäter wurde eine organische Hirnschädigung mit Verhaltensstörung festgestellt. Deshalb sei er weiterhin eine Gefahr für die Öffentlichkeit, erklärt Abteilungsleiterin Monika Ißelhorst-Zimmermann. Und die Folge sei: ein verbitterter Gefangener, zu dem sie und das übrige Aachener Personal nun kaum mehr Zugang finden.

"Die härteste Strafe"

Peter S. ist eine Ausnahme. Nur selten ergeben sich erst in der Haft neue Erkenntnisse über die Gefährlichkeit eines Täters. Und das sollte auch die Ausnahme bleiben, fordern auch Vertreter der Polizei wie Bernhard Witthaut. Bereits während der Ermittlungen und während des Gerichtsprozesses sei es möglich, alle notwendigen Erkenntnisse zu gewinnen, so der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei.

Arthur Kreuzer geht noch weiter: Die nachträgliche Sicherungsverwahrung verstoße gegen das Doppelbestrafungsverbot und das Rückwirkungsverbot, so der renommierte Rechtwissenschaftler. Und damit gegen Verfassungsgrundsätze, die man einhalten müsse, wenn sie nicht gängige Praxis bei Polizei und Justiz werden sollen. "Und plötzlich wäre zugunsten des Opferschutzes ein bisschen weniger rechtliches Gehör erlaubt, ein bisschen Folter und die nachträgliche, rückwirkende Anwendung von Gesetzen", warnt Kreuzer. Zu diesem "Sündenfall" dürfe es nicht kommen.

Das Gesetz spricht bei der Sicherungsverwahrung von einer so genannten "Maßregel der Sicherung und Besserung". Aber eigentlich handelt es sich um eine Strafe, sagen Kritiker wie Kreuzer. Es sei sogar die härteste Strafe. Ein solches Gesetz dürfe nicht rückwirkend angewandt werden.

Schlafen, fernsehen, arbeiten – immer in Verwahrung

Aufenthaltsraum der Abteilung Sicherungsverwahrung der JVA Aachen.(Foto: Daphne Grathwohl)
Zwangsweise geselliges Beisammensein im AufenthaltsraumBild: DW/Daphne Grathwohl

In der JVA Aachen wird der persönliche Kontakt zu den Verwahrten groß geschrieben. Während der Mittagszeit spricht Monika Ißelhorst mit den Verwahrten - ruhig, verbindlich. Ein Verwahrter trägt einen Teller mit Reibekuchen aus der Küche. In Jogginghose und T-Shirt stehen manche auf dem Flur und plaudern.

Die Abteilungsleiterin sagt, sie denke nicht daran, weshalb die 54 Männer in Sicherungsverwahrung sind. Die meisten von ihnen sind Sexualstraftäter. Einige Gewalttäter und ein paar wenige, die Vermögensdelikte begangen haben. Der älteste ist 75, der jüngste 30 Jahre alt. Sie alle können sich im mehrgeschossigen Trakt und im umzäunten Garten frei bewegen. Manche arbeiten in den Betrieben der JVA, zum Beispiel in der Schlosserei oder der Schreinerei. Andere schlafen viel, kochen, besuchen sich gegenseitig oder bekommen Besuch von außen. Sie können Sport treiben oder im Aufenthaltsraum fernsehen.

Nur etwa ein Dutzend Fälle

Garten und Sitzbänke der Abteilung Sicherungsverwahrung JVA Aachen. (Foto: Daphne Grathwohl)
Ein Garten mitten im KnastBild: DW/Daphne Grathwohl

Nach Studien von Rechtswissenschaftler Kreuzer ergreift die nachträgliche Sicherungsverwahrung deutschlandweit zwischen 7.000 und 10.000 Strafgefangene. In ihren Akten ist vermerkt, dass die Voraussetzungen für eine mögliche, nachträgliche Verwahrung gegeben seien. Tatsächlich angeordnet worden sei die Haftverlängerung aber nur in etwa einem Dutzend Fälle. Dennoch würden allen Menschen mit entsprechendem Aktenvermerk "Sicherungsverwahrung" Therapiemöglichkeiten, Vollzugslockerungen und eine zügige Resozialisierung genommen, kritisiert Kreuzer.

Karl Schwers kennt die Kritik. Zustimmen will er ihr nicht. Für alle Strafgefangenen würden dieselben Regeln gelten, betont der stellvertretende Anstaltsleiter der JVA Aachen. Und in der Sicherungsverwahrung müsse später alle zwei Jahre überprüft werden, wie gefährlich die Verwahrten noch sind und ob man sie weiter in Verwahrung lässt.

Daher sei neben der Abteilungsleiterin der psychologische Fachdienst während der gesamten Zeit involviert. Aber auch die Mitarbeiter des allgemeinen Vollzugsdiensts, die die Verwahrten von morgens bis abends sehen, spielten eine große Rolle, sagt Schwers. Sie dokumentierten ihre Begegnungen mit den Verwahrten: Wie hat er sich vor zwei Jahren verhalten, wenn er eine negative Entscheidung eröffnet bekommen hat? Ist er immer noch so aufbrausend oder kann er mittlerweile darüber diskutieren, sich damit auseinandersetzen?

Sicherheit vor Freiheit?

Die Angst vor rückfallgefährdeten Tätern in der Bevölkerung ist groß. Um die Öffentlichkeit zu schützen, gleichzeitig aber auch die Rechte der Betroffenen zu wahren, hat der Gesetzgeber Anfang 2011 die so genannte vorbehaltene Sicherungsverwahrung eingeführt. Sie besagt, dass schon im Strafurteil eine mögliche Sicherungsverwahrung festgeschrieben sein muss. Dann kann sich der Gefangene zumindest schon einmal darauf einstellen, längere Zeit hinter Schloss und Riegel verbringen zu müssen.

Autor: Daphne Grathwohl

Redaktion: Michael Borgers