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5. Tag

15. Februar 2011

100 Minuten können sehr lang sein. Sie können aber auch wie im Fluge vergehen. Das kommt auf die Filme an, wann man sie sieht und wie viele man bei einem Festival sieht. Nicht selten leiden auch die Filme darunter.

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Jochen Kürten (Foto: DW)
Jochen KürtenBild: DW

Kino kann auch sehr anstrengend sein. Darüber muss ich einfach mal diejenigen aufklären, die glauben, ein Filmfestival wie die Berlinale sei die reine Labsal. Für die meisten Menschen dient ein Kinobesuch nur dem Vergnügen: einen Film aussuchen, abends ausgehen, danach noch ein Gläschen trinken gehen. Das macht der Deutsche im Schnitt zweimal im Jahr, sagt die Statistik. Ein Filmfestival ist da etwas anderes. Es hat praktisch nichts mit dem "normalen" Kinobesuch zu tun. Ein Filmfestival bedeutet für diejenigen, die dort arbeiten oder als Gast geladen sind oder ein eigenes Werk präsentieren, so etwas wie den Eintritt in eine andere Realität. Stars und Ehrengäste logieren in den besten Hotels der Stadt, werden abends vom Festivaldirektor abgeholt, über den Roten Teppich hofiert und danach zur Premierenparty transportiert.

Frühmorgendliche Bärenschau

Dann gibt es diejenigen, die Filme kaufen oder verkaufen wollen. Die halten sich fern vom Rummel und schauen in kleinen Kabinen Filme an, die noch nicht einmal das Licht eines Festivals erblickt haben. Ein Festival im Festival ist das sozusagen - das nennt sich dann Filmmarkt. Es gibt noch ein paar andere Filmschaffende und in der Kinoszene tätige Menschen, für die ein Festival aus dem einen oder anderen Grund wichtig ist. Doch das soll hier nicht das Thema sein. Zurück also zur Anstrengung. Und zur Gruppe der so genannten Kinokritiker, zu denen ich gehöre. Wir schauen die Filme, weil wir anschließend darüber berichten: in den Zeitungen, im Internet, im Radio oder im Fernsehen. Für diese Gruppe von Menschen gibt es Pressevorführungen, in die nur Kritiker reindürfen. In die normalen Abendvorführungen hingegen nicht. Pressevorführungen der Wettbewerbsfilme sind immer am frühen Morgen, am Mittag und manchmal auch am Nachmittag. Wenn man also über den Bärenkampf der Berlinale berichtet, bedeutet das jeden Morgen früh aufzustehen und ins Dunkle der Kinosäle einzutauchen. Das ist doch schön und ein Privileg, werden manche jetzt sagen. Ist es auch, gar keine Frage, doch es kann auch ungemein anstrengend sein.

Filmszene aus 'An einem Samstag', Regie: Alexander Mindadze Sektion: Wettbewerb (hier: Anton Shagin, Stanislav Rjadinsky, Aleksey Demidov) (Foto: Bavaria Pictures)
Im Wettbeweerb der Film "An einem Samstag" von Alexander MindadzeBild: Internationale Filmfestspiele Berlin

Setzen Sie sich einmal einem Film aus, der sich ohne Pause einer Handkamera bedient und seinen Hauptdarsteller über 100 Minuten damit verfolgt. Schnell, verwackelt, zudem mit vielen Schnitten. Und das am Morgen. Da kann einem schon mal schwindelig werden. Je nachdem, was man am Abend zuvor gemacht hat. Am Montag haben wir einen russisch-ukrainisch-deutschen Film gesehen, der unpassenderweise auch noch "An einem Samstag" hieß (der wohl aber an einem Samstag noch schwieriger auszuhalten gewesen wäre). "An einem Samstag" schildert in atemberaubenden Manier von einem jungen Parteisekretär in der Ukraine, der die Tschernobyl-Katastrophe hautnah miterlebt, zunächst versucht den Unglücksort zu verlassen, dann aber, als er damit scheitert, in der nahe gelegenen Stadt 24 Stunden mit seinen Mitmenschen verbringt. Regisseur Alexander Mindadze verdichtet dieses Katastrophenszenario zu einer Metapher auf das Leben der sozialistischen Gesellschaften in den 1980er Jahren. Das ist durchaus intelligent gemacht und mit viel Drive in Szene gesetzt, aber, wie gesagt, ungemein anstrengend anzuschauen.

Bild- und Tonbombardement mit Shakespeare-Versen

Gemeinerweise war der Film, der gleich im Anschluss auf dem Festivalprogramm stand, ebenso nervenzerrend. Die erste Regiearbeit des weltberühmten britischen Schauspielers Ralph Fiennes "Coriolanus" überträgt die gleichnamige Tragödie William Shakespeares aus dem Jahre 1607 in die Gegenwart. Fiennes hat daraus ein ungemein blutiges, lautes und in seiner Konsequenz quälendes Kriegsdrama gefertigt. Das ist eindrucksvoll inszeniert, das Original-Shakespeare-Englisch ist in den Dialogen erhalten geblieben, auch Namen und Orte des Geschehens, die Darsteller agieren 'very british', auf allerhöchstem Niveau. Doch nachdem man sich am Morgen so lange mit einer wackelnden Kamera herumschlagen musste, dass einem das Sehen verging und man nicht mehr recht wußte, wo einem der Kopf steht, war man danach versucht immer wieder Augen und Ohren zu verschließen um dem Bilder- und Tonbombardement wenigstens zeitweise auszuweichen. Vor und neben mir wanden sich die Kollegen, leise stöhnend und wimmernd in den Kinosesseln - ungelogen!

Im Wettbewerb ebenso der Film 'Coriolanus' von Ralph Fiennes (Foto: Coriolanus Films Ltd.)
Ebenso im Wettbewerb der Film "Coriolanus" von Ralph FiennesBild: Coriolanus Films Ltd.

Kino muß auf keinen Fall leichte Unterhaltung bieten. Grade als professioneller Kritiker ist man ja ständig auf der Suche nach dem nächsten Meisterwerk und nimmt vieles in Kauf, Kunstanstrengung und exaltierten Manierismus, Formexperimente und den Blick in die gequälten Seelen der Regisseure. Kino muss auch nicht immer die zarte Seele ansprechen, muss nicht nur mit Emotionen kommen oder nur den Intellekt herausfordern. Und wahrscheinlich wäre der Film des russischen Regisseurs ausgeruht am Abend auch sehr gut zu ertragen gewesen, ebenso wie die moderne Shakespeare-Adaption. Doch in der geballten Masse - die beiden hier geschilderten Filme sind nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel im Festivalalltag - kann das Filmesehen ganz schön anstrengend sein. Und doch freue ich mich schon auf den nächsten Film - das ist bei uns Kritikern perverserweise so - einen aus Ungarn, fast drei Stunden lang. Regisseur Béla Tarr ist bekannt für seine minutenlangen, starren und stummen Einstellungen, für seine 20minütigen, ungeschnittenen, langsamen Schwenks....

Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Angela Müller