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Gesellschaft

Kinder sind keine Partner

8. April 2010

Deutsche Unternehmen beklagen in einer aktuellen Umfrage, dass sie immer weniger geeignete Auszubildende finden. Der Psychiater und Autor Michael Winterhoff erklärt im DW-Interview, wie es dazu kommt.

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Michael Winterhoff, Kinderspychiater und Buchautor (Foto: dpa)
Michael Winterhoff fordert, dass Kinder wieder für Erwachsene lernenBild: picture alliance / dpa

Redaktionelles Update vom 27.09.2021: Das Interview mit Michael Winterhoff stammt aus dem Jahr 2010. Im Sommer 2021 wurden Vorwürfe gegen den Kinderpsychiater laut, er habe minderjährige Patienten mit Medikamenten ruhig gestellt. Die Bonner Staatsanwaltschaft hat mittlerweile ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung und des Abrechnungsbetrugs gegen ihn eingeleitet.

 

Industrie und Handel halten jeden fünften Schulabgänger für nicht ausbildungsfähig. Das ergab eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), die am Donnerstag (08.04.2010) in Berlin vorgestellt wurde. Bei 220.000 Ausbildungsbetrieben in Industrie, Handel und Dienstleistungen entspreche dies etwa 50.000 unbesetzten Lehrstellen, sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben. Er sagt zudem, viele Familien seien nicht mehr in der Lage, ihren Kindern Pünktlichkeit und Disziplin zu vermitteln.

Michael Winterhoff, Jahrgang 1955, ist Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut. Er studierte Humanmedizin in Bonn und betreibt dort seit 1988 eine eigene Praxis. In seinem jüngsten Buch "Persönlichkeiten statt Tyrannen/Oder: Wie junge Menschen in Leben und Beruf ankommen", beschäftigt er sich mit den Ursachen schlechter vorbereiteter Schulabgänger.

DW-WORLD.DE: Herr Winterhoff, woran liegt es, dass immer mehr junge Erwachsene weniger für das Berufsleben geeignet zu sein scheinen - am Bildungssystem oder an den Lehrern?

Michael Winterhoff: Nein, das liegt an der Frage, wie wir Kinder sehen. Es geht um die psychische Reifeentwicklung. Dass wir jeden Tag arbeiten gehen und uns acht Stunden konzentrieren können, ist nicht selbstverständlich. Das kann nur erfolgen, wenn die Psyche reift. Wir haben jetzt mit einer größeren Gruppe 18-Jähriger zu tun, die den Reifegrad eines Kleinkindes haben. Das Problem ist, dass es bei dieser Gruppe um Lust geht, um sie selbst und eben nicht um Arbeit.

Wie kommt das und warum war das vor 20 Jahren ganz anders?

Es hat sich sehr viel in der Gesellschaft verändert. Vor 20 Jahren war es vollkommen klar, dass kleine Kinder als solche gesehen wurden. Aber seit Anfang der 1990er-Jahre sieht man in Deutschland kleine Kinder schon als Partner. Man hat die Vorstellung, über Reden und Begreiflichmachen könnte man erziehen. Erziehung funktioniert aber nur im Verhältnis Erwachsener zu Kind.

Eine weitere Veränderung ist seit Mitte der 90er-Jahre zu beobachten: Die Gesellschaft bietet uns Erwachsenen immer weniger Orientierung und Anerkennung. Das führt zu Verunsicherung und Vertrauensverlust und deshalb werden Kinder heute immer öfter unbewusst zur Kompensation dieser Ängste benutzt. Wenn mich da draußen keiner führt, soll mich mein Kind führen, wenn mich keiner liebt, soll mich mein Kind lieben.

Das hört sich doch eher danach an, als ob die Kinder frühzeitig reifen müssten?

Ja, formal sieht das auch so aus, deshalb haben wir schon 7-Jährige, die wunderbar diskutieren können oder 10-Jährige, die auftreten wie kleine Erwachsene. Aber das ist nur aufgesetzt. Dahinter verbirgt sich die Frage, wie sieht es in der Psyche aus? Sie kann auf diesem Wege nicht reifen. Das Problem haben wir nicht nur bei Eltern, sondern auch bei Kindergarten und Grundschule. Auch dort werden Kinder zunehmend als Partner gesehen und es herrscht die Vorstellung vor, dass sie für sich lernen, indem sie sich selbst das richtige Material raussuchen. Das kann nicht funktionieren.

Was empfehlen Sie denn, damit die jungen Erwachsenen besser reifen?

Reifeentwicklung kann nur über die Beziehung gehen. Das heißt, dass Kinder sich für den Erwachsenen entwickeln. Ein Grundschüler lernt nicht für sich, er lernt für den Lehrer. Es ist fatal, wenn wir den Lehrer nur noch als Mentor sehen, bei dem sich die Kinder frei bedienen sollen wie am Buffet. Damit gehen wir aus der Beziehung raus. Wir müssen dringend wieder Konzepte entwickeln, wie wir die Kinder auf uns beziehen.

Das hört sich ein bisschen an, wie der Wunsch nach mehr Dirigismus.

Nein, überhaupt nicht. Es geht gar nicht um die Frage, autoritär oder nicht-autoritär. Es geht nur um die Frage des Konzeptes. Es ist etwas anderes, ob ich ein Kind als Kind oder als Partner sehe. Die Konzepte, die wir heute haben in Kindergarten und Grundschule, sind abgestimmt auf Partner. Damit sind Kinder überfordert und haben keine Chance auf Reifeentwicklung.

Sie arbeiten also durchaus mit Unterordnung?

 

Nein, es ist eher ein vorgegebenes, positives Verhältnis zwischen Erwachsenem und Kind.

Interview: Günther Birkenstock
Redaktion: Stefanie Zießnitz/Kay-Alexander Scholz