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Juri Jechanurow: Europa ist die einzige Alternative für die Ukraine

10. Mai 2006

Der ukrainischer Ministerpräsident Jechanurow spricht im Interview mit DW-WORLD.DE über die außen- und wirtschaftspolitischen Prioritäten seiner Regierung. Die Energieexporte in den Westen sollen steigen.

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Juri JechanurowBild: Sergej Morozow

DW-WORLD.DE: Herr Ministerpräsident, hat sich die Entscheidung für eine Annäherung an den Westen bewährt?

Juri Jechanurow: Ich glaube, es gibt gar keine andere Alternative zu dieser Entscheidung. Alle großen demokratischen Kräfte waren damals entschlossen, das Land auf die EU-Annährung umzuorientieren. Wir tun alles Mögliche, um unsere Energiestrategie mit der EU abzustimmen. Wir werden alles tun, um uns in die Energiewirtschaft Europas zu integrieren. Uns ist bewusst, dass die Ukraine in die Aufgabe der Gewährung der europäischen Energiesicherheit eng eingebunden ist.

Gleichzeitig wollen wir eine selbstständige Rolle auf dem Energiemarkt spielen, indem wir unsere eigenen Energieexporte steigern. Im Moment haben wir das Potential der Eigenproduktion nur zu 75 Prozent ausgeschöpft. Wir wollen das steigern. Wir haben bereits den Energieexport nach Weißrussland erhöht und verhandeln zurzeit mit Russland. Und wir werden uns Mühe geben, damit auch die EU und die Balkanstaaten von uns Energie kaufen. Die Kooperation mit Russland ist nach wie vor wichtig für uns, aber unsere Zukunft ist auf den Westen gerichtet.

Welche Rolle spielt die Ukraine in der Frage der europäischen Energiesicherheit?

Ukraine Russland Streit um Gas Gasanlage bei Kiew
Gasanlage in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt KiewBild: AP

Erstens, wir sind dafür verantwortlich, dass Gaslieferungen Europa reibungslos erreichen. Wir werden alles tun, um unser Gasleitungsnetz in Einklang mit den höchsten Qualitätsstandards zu bringen. Dafür brauchen wir noch ungefähr drei Jahre. Nach diesen drei Jahren werden wir außerdem zwei Mal mehr Gasvolumen in unseren unterirdischen Speichern aufbewahren können. Im Moment befinden sich dort durchschnittlich 18 Milliarden Kubikmeter Gas. Aber die Kapazitäten sind viel höher - etwa 40 Milliarden.

Der andere Aspekt ist, wie gesagt, die Eigenproduktion. Ich hoffe, wir können für Europa zum zuverlässigen Energielieferanten werden. Unter anderem wünschen wir uns, dass die Ölpipeline zwischen Odessa und Brod in Richtung Polen und die Ostsee ausgebaut wird.

Hat die Verschlechterung der Beziehungen mit Russland wirtschaftliche Auswirkungen für die Ukraine gehabt?

Das würde ich nicht sagen. Der Umsatz mit Russland ist in den letzten Monaten sogar gestiegen. Ich glaube, unsere Geschäftsleute sind in ihrer Haltung pragmatischer als Politiker. Wir müssen alles tun, damit es so weiter geht. Gleichzeitig gibt es tatsächlich Schwierigkeiten, beispielsweise mit der Einfuhr ukrainischer Lebensmittel nach Russland.

Ist die Ukraine ihrem Ziel, der EU beizutreten, näher gerückt?

Der EU-Beitritt ist die wichtigste Aufgabe der Ukraine. Wir müssen erstens zu einem zuverlässigen Partner werden und nicht zu einer Last für die EU-Mitglieder. Dies gilt in erster Linie für den Lebensstandard unserer Bevölkerung. Hier haben wir noch viel zu tun. Wir müssen in Europa gebraucht werden. Deshalb legen wir so viel Wert auf die Energie-Integration. Die zweite große Aufgabe ist die Anpassung unserer Gesetzgebung an die europäische. Darauf ist die aktuelle Regierungspolitik gerichtet.

Wann wird die Ukraine der NATO beitreten und warum will sie nicht in dieser Hinsicht neutral bleiben?

Die politische Entscheidung ist bereits getroffen, es gibt einen entsprechenden Gesetzesentwurf. Das Land bewegt sich in diese Richtung, aber die Bevölkerung steht der NATO sehr zurückhaltend gegenüber. Es ist noch viel Aufklärungsarbeit notwendig, vor allem unter der Bevölkerung der östlichen und südlichen Teile der Ukraine.

Was macht heute die Ukraine attraktiv für Investoren? Was hat sich in den vergangenen eineinhalb Jahren verändert?

Die Situation hat sich ohne Zweifel verbessert. Eine Reihe von großen internationalen Konzernen hat hierzulande Geschäfte aufgenommen. Zum Beispiel MetallSteell und einige Banken. Die Investoren verstehen, dass unsere Unternehmen viel mehr wert sind als der Erwerbspreis, was sie so attraktiv macht. Ich glaube, die Investoren, die sich zu viel Zeit lassen, werden am Ende verlieren.

Nach der orangenen Revolution Ende 2004 rechnete die Ukraine mit der Unterstützung Europas. Sind Sie heute enttäuscht?

Jahresrückblick 2004 Dezember Ukraine
Demonstration gegen die Regierung in Kiew im November 2004Bild: AP

Ich erwarte nicht zu viel von großen Versprechen und Ankündigungen, zumal es seitens der EU keine solchen gab. Was wir wollen, ist, dass die Bedingungen geschaffen werden, damit wir selbstständig arbeiten und unsere eigene Nische in der Weltwirtschaft erwerben können. Wir brauchen keine Geschenke, sondern faire Spielregeln und Verständnis. Wir versuchen, uns selbstständig zu etablieren und unsere Industrie auf die Beine zu bringen. Die neusten Entwicklungen in der ukrainischen Privatwirtschaft geben Grund für Hoffnung. Ich habe keine Zweifel, dass die Ukraine dank der Demokratisierungsprozesse ein großes Potential in dieser Hinsicht hat.

Wie wollen Sie dieses Potential realisieren?

Die Zeiten, als eine Handvoll Oligarchen über die Spielregeln auf dem Markt entscheiden konnten, sind vorbei. Heute sind die Regeln für alle gleich. Es wurden günstige Rahmenbedingungen für kleine und mittelgroße Unternehmer geschaffen. Außerdem setzen wir auf den Ausbau der Zusammenarbeit mit Großhändlern aus Russland und dem Westen. Dazu bauen immer mehr ukrainische Großunternehmen ihre Präsenz auf dem Weltmarkt aus.

Wir sind sehr an internationaler Kooperation interessiert. Zum Beispiel im Flugzeugbau. Wenn es klappt, werden wir mit Russland zusammenarbeiten. Wenn nicht, werden wir nach anderen Partnern suchen. Auch im Bereich neue Technologien wollen wir die internationale Wirtschaftszusammenarbeit vorantreiben. Die bevorstehende Privatisierung des Telekommunikationsunternehmens UkrTelekom ist ein entsprechendes Signal für Investoren.

Das Interview führte Sergej Morosow, Chefredakteur der ukrainischen Nachrichtenagentur "Nazionalnije interessi" (Kiew), für DW-WORLD.DE.