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Hunderte Spätaussiedler wollen Deutschland wieder verlassen

17. November 2005

Immer mehr Spätaussiedler träumen davon, in ihre Herkunftsgebiete zurückzukehren, nach Kasachstan oder Russland. Schlechtere Lebensbedingungen dort wollen sie in Kauf nehmen. Ihr Wunsch: In der alten Heimat sterben.

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Gerade alte Menschen haben mit Heimweh zu kämpfenBild: dpa

Heute hat David Ibe einen guten Tag. Es ist schon 15 Uhr, und er hat sich noch kein Insulin spritzen müssen. Meistens ist der Zucker schon morgens früh so hoch, dass es ohne Medikamente einfach nicht geht. Außer Diabetes hat der Spätaussiedler noch Knochenschwund und Rückenprobleme. Schon in Russland war der 56-Jährige krank, aber hier hat sich sein Zustand verschlechtert. Ibe erzählt: „Am Anfang habe ich daran gar nicht gedacht, dass wir irgendwann nach Russland zurückkehren würden. Aber in den letzten drei Jahren ist die Entscheidung immer ernster geworden. Der jüngste Sohn hat auch gerade die Ausbildung beendet und geheiratet. Jetzt, da beide Kinder aus dem Haus sind, fahren wir zurück. Wir wollen in der Heimat sterben."

Gefühl der Fremdheit

Vor sieben Jahren, als der Spätaussiedler mit seiner Familie nach Bonn kam, schien alles in Ordnung zu sein. David und Maria Ibe haben schnell Deutsch gelernt. Sie sprechen zwar nicht perfekt, aber es reicht, um sich zu verständigen. Maria Ibe arbeitet als Raumpflegerin, ihr Mann hat bis vor kurzem auch gearbeitet, solange seine Gesundheit das zuließ. Aber richtig einleben konnten sich die beiden trotzdem nicht. Maria Ibe: „Ich fühle mich fremd hier. Ich habe immer noch Komplexe, dass ich nicht wie die Einheimischen Deutsch kann und es nie können werde. Und dann noch diese Spannung die ganze Zeit: Wir haben immer Angst, dass wir etwas falsch machen, Angst vor Briefen von Behörden. Wenn man mal was nicht bezahlt, dann landet man im Nu auf der Straße. Ich bin müde von dem Ganzen. Das macht mich fertig."

Besseres Leben, aber Einsamkeit

In ihrem Dorf nahe Nowosibirsk hatte das Ehepaar ein eigenes Haus mit Garten und Vieh. David Ibe war Kraftfahrer, seine Frau Maria Arbeiterin in einer Gärtnerei. In den neunziger Jahren war das Leben in Russland für alle schwer. Oft hat man monatelang keinen Lohn bekommen. Dazu kam auch, dass sich die Spätaussiedler unter Russen immer schon fremd fühlten. Als die Spätaussiedler endlich nach Deutschland einreisen durften, war es kein Wunder, dass die meisten wegfuhren. Im Westen ist das Leben sicherlich einfacher, dachten sie. Besonders verlockend war auch, dass sie direkt als deutsche Staatsbürger anerkannt wurden. Die heimatlosen Spätaussiedler haben sich auch gefreut, endlich zu Hause zu sein.

David Ibe erinnert sich: „Wir dachten, dass das Leben hier leichter wird. Es ist auch leichter, keine Frage. Aber ich bin hier ein Niemand. Keiner interessiert sich für dich. Und in meinem Dorf konnte ich rausgehen, mit den Nachbarn quatschen, jeder kennt dich. Ich habe jetzt keine Verwandten in Russland, aber ich will trotzdem in mein Dorf."

Noch kein Problembewusstsein

Geschichten wie die des Spätaussiedlers David Ibe kennen die Mitarbeiter der Wohlfahrtsorganisation „Heimatgarten" zuhauf. Dieses Projekt der Arbeiterwohlfahrt Bremerhaven war ursprünglich dazu gedacht, Kriegsflüchtlingen zu helfen, in ihre Heimat zurückzukehren. In der letzten Zeit haben sich immer mehr Russlanddeutsche an den Verein gewendet. Deswegen wurde für sie im Oktober dieses Jahres in Bielefeld eine spezielle Stelle eingerichtet. „Ich glaube, wir sind die einzigen in ganz Deutschland", sagt der Mitarbeiter Zafar Sharadzhabow, und er fügt hinzu: „Dieses Problem ist eigentlich noch nicht erkannt. Es gibt keine Abmeldepflicht für die Rückkehrer. Sie können in ein beliebiges Land auswandern, und dafür gibt es keine Statistik. Vergessen wir nicht, dass die Menschen in den autoritären Systemen aufgewachsen sind. Sie haben immer Angst vor dem Staat, und das ist schon im Blut dieser Menschen. Sie wollen nicht mit den Behörden darüber sprechen."

Nach Hause, um jeden Preis?

Dass es dieses Problem doch gibt, obwohl keine offiziellen Zahlen das belegen, zeigt die eigene Statistik von Zafar Sharadzhabow. Über 300 Anträge von Kiel bis Freiburg hat er mittlerweile bekommen, in denen Russlanddeutsche um Hilfe bitten. Das häufigste Problem ist Geld. Aus der langjährigen Arbeit mit Flüchtlingen kennt „Heimatgarten" hierfür eine Lösung, sagt Zafar Sharadzhabow: „Die meisten Familien sind Sozialhilfe- oder Arbeitslosengeld II-Empfänger. Stellen wir uns vor: die durchschnittliche Familie bekommt als Hilfe vom Sozialamt durchschnittlich 1.200 Euro pro Monat. Nur ein paar Sätze, das heißt 3.000-5.000 Euro, wären genügend für die Familie, um zurückzukehren, dort Fuß zu fassen, eine Wohnung zu mieten, Arbeit zu finden. Dann wird das Sozialsystem in den Kommunen, in den Gemeinden entlastet. Und dann werden alle glücklich."

So einfach ist es in der Praxis jedoch nicht. Es gibt kein Gesetz, dass den Beamten erlauben würde, den Spätaussiedlern gleich mehrere Monatsraten auf einmal auszuzahlen. Der deutsche Staat ist nicht verpflichtet, seinen Bürgern Auslandsreisen zu bezahlen. Deswegen werden die meisten Anträge von den Behörden abgelehnt. Die Familie Ibe aus Bonn hat noch keine Antwort bekommen. Das heißt, die Hoffnung, dass es klappt, ist noch da. Der gesundheitliche Zustand von David Ibe wird allerdings von Tag zu Tag schlechter: „Ich schlafe nachts nur zwei-drei Stunden. Alle Gedanken sind dort, in meinem Heimatdorf bei Nowosibirsk. Wenn ich, sagen wir mal, das Geld heute bekommen würde, würde ich mich morgen überall abmelden und übermorgen abhauen. Ich bin bereit, meinen deutschen Ausweis abzugeben, nur um wegzufahren. Es war ein Fehler, nach Deutschland zu ziehen. Man sollte da bleiben, wo man geboren wurde."

Nadja Baeva

DW-RADIO, 17.11.2005, Fokus Ost-Südost