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Frauen und die Schwachstelle Kreuzband

Matt Pearson | Olivia Gerstenberger
26. September 2022

Während und nach der Fußball-Europameisterschaft der Frauen häuften sich Meldungen über Kreuzbandverletzungen. Diese bedeuten im Normalfall einen mehrmonatigen Ausfall. Warum sind sie so viel häufiger bei Sportlerinnen?

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Spielszene mit Nadja Nadim
Die dänische Nationalspielerin Nadja Nadim hat sich das Kreuzband gerissenBild: Aaron Doster/USA TODAY Network/IMAGO

"Leider habe ich mir bei unserem letzten Spiel das Kreuzband im linken Knie gerissen. Natürlich bin ich am Boden zerstört und traurig." Die dänische Nationalspielerin Nadja Nadim hatte sich gerade erst wieder von einem Kreuzbandriss erholt, war kurz vor der Fußball-Europameisterschaft der Frauen ins Team zurückgekehrt - und erlebte nun bei ihrem Verein Racing Louisville einen weiteren, bitteren Rückschlag.

Die in Afghanistan geborene Spielerin weiß, wie schlimm die Verletzung ist, und so machte sie sich und ihren Fans bei Instagram Mut. "Ich wurde als Kämpferin geboren und ich weiß, dass mich nichts brechen kann. Ich weiß auch, dass es schlimmer sein könnte." 

Mehrere Fußballerinnen bei der EM betroffen

Ein Kreuzbandriss ist die am meisten von Fußballern und Fußballerinnen gefürchtete Verletzung. Wie Nadim erging es bei der Europameisterschaft gleich mehreren Spielerinnen, zum Beispiel PSG-Stürmerin Marie-Antionette Katoto, die sich bereits im zweiten Spiel ihr vorderes Kreuzband (ACL) riss - ein zähes Gewebeband, das den Oberschenkelknochen mit dem Schienbein am Kniegelenk verbindet.

Auch Ballon d'Or-Gewinnerin Alexia Putellas, Mittelfeldstar der spanischen Nationalmannschaft, erwischte es im Umfeld der EM - allerdings bereits in einer Trainingseinheit. Die nordirische Stürmerin Simone Magill reihte sich einige Tage ebenfalls in die Verletztenriege ein. Ungewöhnlich für eine ACL-Verletzung trat diese in einem Zweikampf auf.

Simone Magill wird weinend vom Feld begleitet
Nationalspielerin Simone Magill verletzte sich bei der Europameisterschaft schwer Bild: Graham Hunt/Pro Sports Images/IMAGO

"Ich habe einen leichten Kontakt durch den Rücken gespürt und habe mein linkes Bein ausgestreckt, um zu versuchen, mich zu stabilisieren und das Gleichgewicht zu halten, aber leider ist das Knie nach innen eingeknickt und die ACL ist dadurch einfach gerissen", sagte die Stürmerin von Aston Villa. "Als es passierte, wusste ich, dass mein Turnier vorbei war."

Der ACL-Gender-Gap

ACL-Verletzungen sind nicht besonders häufig, ihre Genesungszeit beträgt allerdings im Schnitt neun Monate. Sie können in jeder Sportart auftreten, wobei Fußball- und Basketballspieler aufgrund der dynamischen Richtungsänderungen bei diesen Sportarten einem höheren Risiko ausgesetzt sind.

Frauen haben ein drei- bis sechsmal höheres Risiko für die Verletzung als Männer. Das ist das Ergebnis einer Studie vom Juli 2021. Eine der Autoren der Studie war Joanne Parsons, außerordentliche Professorin an der Abteilung für Physiotherapie am College of Rehabilitation Sciences der Universität von Manitoba in Kanada.

Sie sagte der DW, biologische Faktoren, einschließlich Hormone (besonders in der Pubertät, wenn Kreuzbandverletzungen bei Mädchen häufig vorkommen), sowie andere biologische und anatomische Unterschiede zwischen den Geschlechtern (Knie-, Oberschenkel- und Hüftformen) spielten zweifellos eine Rolle. Sie seien jedoch bei weitem nicht der einzige Grund für die Unterschiede. Genetische Faktoren und die Verletzungsgeschichte sind demnach ebenfalls von hoher Relevanz, aber auch gesellschaftliche Faktoren.

Laut Parsons waren Wissenschaftler einst verwirrt über die Tatsache, dass die jährlichen ACL-Verletzungsraten in der Allgemeinbevölkerung in den letzten Jahren bei Männern gesunken und bei Frauen gleich geblieben sind. 

Inhärentes versus erworbenes Risiko

"Wir müssen über das Biologische hinausdenken", sagte sie. "Anstatt [nur] das inhärente Risiko zu betrachten, müssen wir uns ansehen, welche Art von erworbenem Risiko sie [die Frauen] eingehen. Welche Arten von Umgebungen und Expositionen erleben sie, die sie möglicherweise einem höheren Risiko aussetzen?

"Ich greife immer wieder auf eine Kraftraum-Analogie zurück. Es wurde einiges an Forschungen zu Mädchen und Frauen im Kraftraum durchgeführt. Es ist eine stark geschlechtsspezifische Umgebung, in der sich Mädchen und Frauen oft nicht willkommen oder unterstützt fühlen. Also, wenn wir eine Umgebung haben, die das Krafttraining nicht wirklich unterstützt, was für die Verletzungsprävention sehr relevant und erforderlich ist, dann haben wir ein erhöhtes Risiko für Athleten geschaffen, anstatt dass es ein inhärentes Risiko darstellt."

Kreuzbandrisse beendet Sportkarrieren

Brooke Patterson gehört zu denen, die sich in jungen Jahren beim Basketballspielen eine ACL-Verletzung zugezogen haben. Sie musste mehrere Monate in ihrer Heimat Australien auf die Operation warten, da ihre Krankenversicherung die Operation nicht abdeckte. Sie wurde schließlich operiert, fragt sich aber heute, ob es überhaupt nötig war. Einige Mediziner und Forscher schlagen stattdessen Ruhe, Kraft und Konditionierung vor. Es kann in einigen Fällen genauso effektiv sein, den Muskel heilen zu lassen.

Patterson spielte später in der Women's Australian Football League (Aussie Rules), bevor sie Physiotherapeutin und Trainerin wurde, während sie am Forschungszentrum für Sport- und Bewegungsmedizin der LaTrobe University in Melbourne promovierte. Sie sagt, dass Spitzensportler, unabhängig von ihrem Geschlecht, wahrscheinlich nach mindestens neun Monaten zu ihrem Sport zurückkehren werden - und das oft besser als je zuvor. 

"Das ist das Beeindruckendste, was ich gelernt habe", sagte Patterson der DW. "Zu sehen, wie Athleten sportlich besser werden, und auch ihre Fußballleistung. Wie die meisten Athleten, die eine ACL [Verletzung] durchmachen, sind wir am anderen Ende tatsächlich viel fitter und stärker geworden."

Däbritz: stärker als vor der Verletzung

DFB-Star Sara Däbritz  sagte der DW vor dem Turnier, dass dies auch bei ihr der Fall sei, nachdem sie sich im Dezember 2019 eine Kreuzbandverletzung zugezogen hatte. "Diese Verletzung hat mich noch stärker gemacht - mental, als Person - aber auch auf dem Platz", sagte sie. "Es hat mir geholfen, all diese Herausforderungen während der Verletzung zu meistern."

Fußballspielerin Sara Däbritz in einer Spielszene mit Ball
Sara Däbritz verletzte sich 2019 am KreuzbandBild: Thor Wegner/DeFodi Images/picture alliance

Für Freizeitspielerinnen sieht es oft anders aus. Viele Frauen hören mit dem Sport auf, wenn sie sich im frühen Alter eine so schwere Verletzung zugezogen haben. "Viele der Athleten machen nicht wirklich so lange Reha, wie sie sollten oder so oft, wie sie sollten. Wenn sie also nicht zum Sport zurückkehren, besteht für sie scheinbar kein Risiko einer erneuten Verletzung, aber sie sind es dem Risiko einer früh einsetzenden Arthritis ausgesetzt. Es sind eher diese allgemeinen Gesundheitsprobleme, von denen sie möglicherweise nichts wissen", sagte Patterson.

Das Fehlen angemessener Unterstützungsstrukturen kann sich auch auf die psychische Gesundheit von Sportlern auswirken, egal ob Freizeit- oder Profisportler. Obwohl es nicht alles löst, könnte die schnelle Professionalisierung der Top-Frauenklubs und Nationalmannschaften Magill, Katoto, Putellas und Nadim mehr Hilfe bieten, als sie vor 20 Jahren erhalten hätten.