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Die Untiefen der Seele

Martin Hubert / Ingun Arnold

In Göttingen gibt es ein berühmtes Lokal: die Junkernschänke. Dahin lud ein frisch habilitierter Germanist seine Gutachterin zum Umtrunk ein. Die ältere unverheiratete Dame lehnte peinlich berührt ab. Was war geschehen?

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Bild: Illuscope

Im Übereifer des Gefechts war dem jungen Wissenschaftler ein Versprecher unterlaufen: statt "Junkern-" ist ihm "Jungfernschänke" herausgerutscht. Die alte Dame fühlte sich persönlich angegriffen.

Das Unterbewusstsein meldet sich zu Wort

Sigmund Freud
Sigmund FreudBild: AP

Die Fehlleistung ist schnell erklärt: Das Unbewusste war am Werk - und produzierte einen typischen "Freudschen Versprecher". Sigmund Freud war der festen Überzeugung, dass unterhalb des Reichs der bewussten Gedanken eine viel einflussreichere, dunkle Kraft von verdrängten Wünschen, abseitigen Gedanken und wilden Gelüsten ihr Unwesen treibt. Allein der Gedanke daran war für Vernunftsmenschen eine Zumutung. Freud wurde zum Nestbeschmutzer abgestempelt.

Spurensuche auf der Couch

Wolfgang Thierse mit Sofa
Bild: AP

Anfangs suchte Freud nach einer neurowissenschaftlichen Begründung seines neuen Verständnisses der Psyche. Doch er fand sie nicht: Die Hirnforschung war Anfang des 20. Jahrhunderts noch unterentwickelt. Also konzentrierte er sich allein auf therapeutische Erfahrungen mit psychisch kranken Menschen. Aus den Äußerungen ihrer kranken Seelen schloss er auf den Aufbau des menschlichen Innenlebens, auf ein Schichtengebilde aus oberflächlichem Bewusstsein und tiefgründigem Unbewussten.

"Die Seele" - nix für Naturwissenschaftler

Schon allein die Tatsache, dass Freud hartnäckig vom "Seelenleben" sprach, machte ihn bei mehr naturwissenschaftlich orientierten Psychologen zum Außenseiter. Die Seele galt ihnen als Ausgeburt spekulativer Phantasie. Denn die Seele ließ sich nicht messen - Freuds Theorie hielt einer exakten empirischen Analyse von Wahrnehmungen und Gedanken nicht stand.

Das Gehirn arbeitet im Untergrund

Ein Gehirn
Bild: AP

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch tat sich Erstaunliches: Die Hirnforschung trat ihren Siegeszug an. Mit Resultaten, die manch strenggläubigen Rationalisten wohl anfangs wie klassische Fehlleistungen vorbeigekommen sein mussten. Das Gehirn, stellten die Neurowissenschaftler pedantisch genau fest, arbeitet die meiste Zeit unbewusst. Es verarbeitet Sinneseindrücke zu Vorstellungen von Objekten, ohne dass der Mensch davon weiß. Das Gehirn filtert Gedächtnisinhalte und schiebt mal das eine, mal das andere in den Vordergrund. Daher kommt es, dass einem unvermittelt Dinge "durch den Kopf gehen", ohne dass man groß darüber nachdenken muss.

Pflege für die Seele

Traum des Minotaurus
"Traum des Minotaurus"Bild: Monika Rittershaus

Bislang definierten die Neurowissenschaftler das Unbewusste anders als die Psychoanalytiker: Die reine Wissenschaft kennt keine Verdrängungsmechanismen und auch die Freudschen "wilden Triebe" wurden längst für unwissenschaftlich erklärt. Doch in jüngster Zeit haben einige Forscher diese Theorien neu aufgerollt.

Und siehe da: Sie haben mitten im Gehirn Hinweise auf "Verdrängung" gefunden. Nervenverbindungen, die den Zugang zu unliebsamen Gedächtnisinhalten regeln, werden unterbrochen, sobald die Erinnerung ein unerträgliches Ausmaß annimmt. Und: Im Frontalhirn gibt es Areale, die das Bewusstsein steuern.

Selig mit oder ohne Seele?

Die Hirnforschung, die sich zunächst der Erforschung bewusster Aktivitäten verschrieb, wurde also direkt in die Untiefen eines Unbewussten geführt. Die Psyche erscheint als ein komplexes Wechselspiel: Unbewusste und bewusste Anteile hemmen und aktivieren sich gegenseitig. Sie organisieren sich selbst auf rätselhafte Weise. Bleibt nur noch zu klären, ob unter solchen Bedingungen der Mensch noch ganz Herr seiner selbst ist oder ob dunkle Mächte nicht schon längst das Kommando übernommen haben ...