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"Dem gemeinsamen Blick näher gekommen"

7. Mai 2005

Vor dem Höhepunkt der Feiern zum 60. Jahrestag des Kriegsendes spricht Kulturstaatsministerin Christina Weiss mit DW-WORLD über deutsches Gedenken und die Notwendigkeit einer gesamteuropäischen Perspektive.

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Christina Weiss im Deutsch-Russischen Museum in BerlinBild: DW

Vom 4. Mai bis 28. August 2005 zeigt das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst die Ausstellung "Triumph und Trauma. Sowjetische und postsowjetische Erinnerung an den Krieg". Die Ausstellung thematisiert die Wechselwirkung von staatlicher Erinnerungspolitik und individuellem Gedenken. Neben der von Partei und Staat geformten Kriegserinnerung soll auch privates Erinnern gezeigt werden.

Oliver Samson traf Kulturstaatsministerin Christina Weiss nach der Ausstellungseröffnung zum Interview.

DW-WORLD: Frau Ministerin, der Leiter des Deutsch-Russischen Museums hat sich in seiner Eröffnungsrede im Scherz beschwert, dass Sie unlängst in einem Interview das Museum nicht als herausragenden Ort des Gedenkens an 1945 erwähnt haben. Nun haben Sie die Ausstellung gesehen. Würden Sie wieder "vergessen", das Museum zu erwähnen?

Christina Weiss: Ich habe keinen Moment gezweifelt, dass diese Ausstellung wichtig ist. Schließlich bin ich zur Eröffnung gekommen – das ist ja ein Zeichen. In Interviews denkt man ja immer an das, was einem gerade am nächsten ist. Diese Ausstellung ist sehr eindrucksvoll, weil sie die Bilder zeigt, die das Nachdenken, die Auseinandersetzung und die Meinung über Geschichte manipulieren. Das meine ich nicht negativ: Sie manipulieren aber das, was man über Geschichte weiß, was man wahrnimmt, und wie man sich selbst darin platziert.

Wir nähern uns nun dem Höhepunkt des Gedenkjahres an 1945. Wenn Sie sich das deutsche Geschichtskonstrukt anschauen, das 2005 im Gedenken an das Kriegsende transportiert wird: Was hat Ihnen gefallen, was nicht?

Ich finde es ausgesprochen gut und wichtig, dass wir gerade jetzt, im ersten Jahr der Wiedervereinigung großer Teile Europas durch die EU-Beitritte, sehr viele Veranstaltungen haben. Wir müssen gemeinsam darüber nachdenken, wie wir gemeinsam über unsere Geschichte reden können – das haben wir ja bisher noch nicht getan. Jedes Land tut dies mit seinem nationalen Blick in unterschiedlicher Wertung.

Ich hoffe, dass wir jetzt angeregt durch das Gedenken an 1945 gemeinsam über einen gemeinsamen Blick über die gemeinsame Geschichte debattieren. In sofern hat mir alles gefallen, was diesen Gedanken ernst genommen hat. Die Ausstellungen im Deutschen Historischen Museum waren da sehr eindrucksvoll – gerade die Vorgängerausstellung zur jetzigen, "Mythen der Nationen". Da läuft es einem eiskalt den Rücken herunter, wenn man sieht, wie wenig es die "Wahrheit der Geschichte" gibt. Es gibt das Erleben, die Emotionen – und eben die Manipulation.

Sie sprachen in Ihrer Rede zur Ausstellungseröffnung von einer "neuen Unübersichtlichkeit der nationalen Geschichtsbilder" über den Zweiten Weltkrieg – gleichzeitig erhoffen Sie sich eine gesamteuropäische Perspektive. Sind wir dieser 2005 ein Stück näher gekommen?

Ganz massiv. Wir sind dem gemeinsamen Blick näher gekommen, weil die Offenheit durch die Vereinigung Europas wieder da ist. Wir nehmen wahr, was die anderen aussparen, womit sich die anderen schwer tun. In der Auseinandersetzung, womit wir selbst uns schwer tun, sind wir in Deutschland ja schon recht weit. Aber das Miteinander haben wir auch noch nicht geleistet. Natürlich kommen wir uns nicht durch diesen Jahrestag nahe – wir nähern uns durch die Vereinigung Europas.

Welche Signale gehen vom deutschen Gedenken in die Welt und wie werden diese rezipiert?

Ich weiß, dass vom deutschen Gedenken wichtige Signale überall hinaus in die Welt gesendet werden. Das fängt bei unseren Archiven an und geht weiter mit der BSTU, also der Behörde zur Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen. Wir bekommen da sehr viele Anfragen: Wie handhabt ihr das, wie ist das gesetzlich geregelt, wie geht ihr damit um? Deutsches Gedenken ist sehr breit gestreut und inzwischen auch von einer sehr aufrechten Haltung geprägt. Das imponiert überall.

Ich will nicht sagen, dass alle anderen die gleiche aufrechte Haltung brauchen. Wir haben ja schließlich auch die größere Last abzuarbeiten. Aber trotzdem gibt es gerade in den mittel- und osteuropäischen Ländern jetzt auch diese Auseinandersetzung: Wie haben wir uns damals verhalten, wie sind wir mit der Naziherrschaft umgegangen, was haben wir gemacht. Es gibt jetzt überall gemeinsame historische Kommissionen wie zwischen Deutschland und Polen oder Deutschland und Tschechien.

Wir haben auch das "Netzwerk Zwangsmigration und Vertreibung" im Europa des 20. Jahrhunderts geschaffen, das noch im Mai seine Arbeit aufnehmen wird. Die Zentrale wird in Warschau sein. Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Österreich und Deutschland entsenden jeweils einen Mitarbeiter dorthin. Zudem gibt es einen Koordinator im eigenen Land und wir errichten ein Kuratorium aus "Elder Statesman", die für die Idee werben, dass es eine gemeinsame Geschichtsbetrachtung geben muss.

Die Ausstellung im Deutsch-Russischen Museum in Berlin soll ein Gegengewicht zu einer zunehmend deutschen Perspektive bei der Geschichtsbetrachtung sein. Sehen Sie auch diesen Trend zur deutschen Nabelschau?

Es gibt eine deutsche Nabelschau, das ist richtig - aber es gibt doch auch viele Gegenpole. Da muss man nur die Augen aufmachen. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass sich die Deutschen - wie alle anderen auch - klar machen müssen, dass es eine rein nationale Betrachtung gerade der emotionalen Seite 60 Jahre nach Kriegsende nicht mehr geben sollte. Man darf sie äußern und darstellen, aber man sollte gleichzeitig klarstellen, dass es immer auch eine andere Perspektive gibt.