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„Bittere Wahrheiten für beide Seiten im Kosovo“

31. August 2006

Im Interview mit DW-RADIO nimmt der Bundestagsabgeordnete und Balkanexperte der FDP, Rainer Stinner, Stellung zu den umstrittenen Äußerungen von UN-Vermittler Ahtisaari und den Perspektiven des Kosovo.

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Rainer Stinner (FDP)

DW-RADIO/Serbisch: Wie beurteilen Sie die Äußerung von Herrn Ahtisaari über die Verantwortung der serbischen Bevölkerung für die Ereignisse im Kosovo?

Rainer Stinner: Man kann über die Wortwahl von Herrn Ahtisaari sicherlich streiten. Aber richtig ist die Grundaussage, dass sich jedes Volk seiner Geschichte selber stellen muss – und da sind wir als Deutschland ja nun wirklich „erfahren“ genug - wir haben das ja auch qualvoll getan. Dass dieser Prozess in Serbien unterentwickelt ist, ist völlig unbestritten. Von daher hat Herr Ahtisaari diesbezüglich Recht. Welche Konsequenzen das für die Zukunft hat, das ist eine andere Geschichte. Natürlich muss Serbien – und dabei müssen wir dem Land auch helfen – diesen Verarbeitungsprozess in Angriff nehmen. Damit Serbien dann tatsächlich seine Rolle im Konzert der Völker und der Staaten der Region einnehmen kann. Aber dieser schmerzhafte Prozess muss tatsächlich in der serbischen Gesellschaft geleistet werden. Das ist unumgänglich und dieser bitteren Wahrheit muss sich die serbische Gesellschaft wirklich stellen.

Die serbische Politikerin im Kosovo, Rada Trajkovic; hat gesagt, wenn die Serben sich für die Taten des Milosevic-Regimes verantwortlich zeigen sollen, müsse im Gegenzug auch die albanische Seite Verantwortung für extremistische Taten übernehmen. Was sagen Sie dazu?

Ich habe immer ein Problem damit, wenn man eine Gruppe bittet, mit ihrem Problem zunächst einmal selbst umzugehen, dass dann die erste Reaktion ist: ich zeige auf jemand anderen. Es ist durchaus richtig, dass man natürlich auch Forderungen und Fragen an die albanische Führung stellen muss. Aber das ist völlig unabhängig von dem Verarbeitungsprozess, der auf serbischer Seite stattfinden muss. Beide Seiten müssen mit ihrer Geschichte umgehen, müssen daraus Konsequenzen und Lehren ziehen, damit sich im Interesse beider Seiten und der gesamten Region etwas Positives entwickeln kann.

Der neue UNMIK-Chef Joachim Rücker hat in einigen Interviews angedeutet, dass er sich eine Lösung der Status-Frage nur im Sinne einer Unabhängigkeit Kosovos vorstellen kann. Wie sehen Sie das?

Ich persönlich glaube, dass die Lösung eine wie auch immer definierte konditionierte Unabhängigkeit sein kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine völlig unkonditionierte Unabhängigkeit geben kann. Denn der Kosovo ist nicht ein Land wie Schweden oder wie Österreich oder wie Kanada. Das zeigt schon die Tatsache, dass wir nach wie vor 17.000 Soldaten dort haben. Ich glaube, dass wir hier einen Kompromiss finden müssen. Und diese bittere Wahrheit müssen wir auf der einen Seite den Serben klar machen, dass ein Status des Kosovo innerhalb Serbiens, wie ihn sich viele Serben wünschen, wohl nicht erreichbar sein wird. Wir müssen aber auch den Kosovaren sagen, dass eine unkonditionierte, völlige Unabhängigkeit gegenwärtig nicht erreichbar ist. Das sind bittere Wahrheiten für beide. Und da das so ist und die internationale Gemeinschaft eine Entscheidung fällen muss, bin ich dafür, diese Entscheidung eher früher als später zu fällen, um einen Schritt weiter zu kommen in der Region.

Das Interview führte Filip Slavkovic

DW-RADIO/Serbisch, 28.8.2006, Fokus Ost-Südost